Besiegte Befreite. Eine arabische Journalistin erlebt den besetzten Irak
Bensedrine, Sihem

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Die tunesische Journalistin Sihem Bensedrine reist in den Irak. Es ist Juni 2003. Der Irak ist befreit, sagen die einen - besetzt die anderen. Sihem Bensedrines Reise ist keine Selbstverständlichkeit, denn sie ist eine der ersten unabhängigen arabischen Journalisten, die den Irak nach dem Sturz Saddam Husseins besuchen.

Von arabischen Intellektuellen wird sie gar der Kollaboration mit den Amerikanern verdächtigt. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen hat die Journalistin in einem persönlichen Buch festgehalten.

Eigentlich wollte sie eine irakische Freundin suchen, die sie vor zehn Jahren in Bagdad kennen gelernt hatte. Damals war sie oft im Irak eingeladen. Es war die Zeit des Embargos und viele arabische Intellektuelle unterstützten Saddam. Auch Sihem Bensedrine, die erst durch ihre Freundin Nacera auf die Abgründe des Regimes aufmerksam gemacht wurde: "Ich leitete ein Komitee zur Unterstützung des irakischen Volks. Wir brachten Medikamente und dergleichen. Damals war ich blind gegenüber dem, was im Irak wirklich passierte. Nacera nahm das Risiko auf sich, mir die Augen zu öffnen und mir zu erklären:'Vorsicht. Ihr habt kein Recht Komplizen dieses Mannes zu sein'. Wir waren damals ja sehr stolz auf ihn", so die Schriftstellerin.

Die Journalistin findet auf dieser Reise ihre Freundin nicht. Sie erlebt ein Land, dessen Infrastruktur zusammengebrochen ist und viele Fragen aufwirft. Auch Fragen nach der Verantwortung der arabischen Intellektuellen. Selbstkritisch sucht Sihem Bensedrine in ihrem Buch nach Antworten.

Und sie erzählt die Geschichten der Menschen in Bagdad, deren Alltag völlig auf den Kopf gestellt wurde. May zum Beispiel ist eine der wenigen Studentinnen, die weiterhin zur Uni gehen. Aus Angst vor Entführung und Vergewaltigung bleiben Frauen jetzt zu Hause: "Die emanzipierte Irakerin ist von den Straßen verschwunden. Sie wurde von einer anderen Frau ersetzt: von einer geschwächten Frau, einer Frau, die Angst hat, die gehindert wird, zur Universität oder zur Arbeit zu gehen. Ich treffe nicht mehr die Irakerinnen an, die früher ein Vorbild der emanzipierten arabischen Frauen waren", erzählt Bensedrine.

Sihem Bensedrine lernt auch den Physiker kennen, der im Gemüseladen aushelfen muss. Oder sie spricht mit Ibrahim. Der junge Mann war seit seinem achtzehnten Lebensjahr in rund vierzig Haftanstalten und wurde gefoltert. "Gefängnistourismus" wird das genannt. Er gründete sofort nach Saddam Husseins Sturz eine Vereinigung. Die soll verhindern, dass die Spuren des Terrorregimes verwischt, Erinnerungen verdrängt und Akten vernichtet werden.

Das Bild einer doppelt traumatisierten Gesellschaft entsteht. Denn beides, das Baath-Regime Saddam Husseins wie auch die amerikanische Besatzung, ist in den Augen der Bevölkerung ungerecht.

All ihre Beobachtungen im Irak führen die Publizistin immer wieder zur Situation in ihrem eigenen Land zurück, das Menschenrechte missachtet und Pressefreiheit nicht kennt.

"Besiegte Befreite" ist im Original auf französisch geschrieben - der Sprache, die in Tunesien viel gelesen wird. Kein Wunder also, dass ihr Buch dort auf dem Index steht. "Das Buch ist in Tunesien verboten. Als ich einige Exemplare mitbringen wollte, wurden sie mir am Flughafen abgenommen. Obwohl ich vom Irak erzähle, haben sie in Tunesien Angst vor dem Buch. Denn es zeichnet ein karikatureskes Bild von dem, was sie selbst in ihrem Land machen", sagt Bensedrine.

Besiegte Befreite. Eine arabische Journalistin erlebt den besetzten Irak
Bensedrine, Sihem
12,90 €
3888973627
Kunstmann