19.01.2005:
Hintergrund: Baqi Allah - Ewig ist Allah
Gedanken über den Tod und Trauertraditionen in muslimischen Ländern - Von Sami Alphan, Köln

(iz)Gestern war sie noch da und quicklebendig, heute nicht mehr. Vor einigen Tagen noch telefoniert, jetzt ist die Stimme für immer verstummt. Vor einigen Monaten noch besucht, zusammen gelacht, alter Zeiten gedacht und Pläne für den nächsten Sommer gemacht, jetzt ist sie auch für immer ein Teil nur mehr der alten Zeit und kann nicht mehr gegenwärtig wahrgenommen werden. Es ist nicht so, wie wenn man über andere betreffende Fälle erzählt, über sie hinweg herum philosophiert, sich nebenbei Gedanken macht. Der Todesengel, der seine Pflichten immer in der Nähe der anderen Menschen zu erledigen schien, bewegte sich diesmal in so einer Nähe, dass man trotz der weiten Entfernung Türkei – Deutschland alles fühlen kann. Die manchmal üblichen Fragen „warum sie“, „wieso“, „weshalb“, durch welche man sich leicht am Rande islamisch nicht mehr vertretbarer Geisteshaltung und Schicksalskritik befinden könnte, spare ich mir. Das ist der Tod und ihre Stunde sollte schlagen - so war es in Urewigkeit entschieden. Knoten im Hals, Sura Ya-Sin in der Hand, mit dem nächsten Flieger Richtung Türkei, sodass man zumindest am Totengebet und Begräbnis, die letzte Verpflichtung aus der jahrelangen Verwandtschaft, Kinder- und Jugendzeit, teilnehmen und darüber hinaus die letzte Begegnung auf dieser Welt nicht verpassen kann.

In der Moschee angekommen, liegt die vorläufige Behausung, der Sarg, schon mit der neuen, kurzzeitigen Besitzerin auf der Steinbahre für die Verstorbenen während der Zeit des Totengebets auf dem Hof der Moschee. Wie viele ihn schon sein/ihr nennen durften für so eine kurze Zeit, Allah weiß es. Wie lange bleibt man auf der Welt? Hat dieser Sarg keine Ähnlichkeit mit der Welt? Wäre es nicht Unsinn, die ganze Zeit sich um diesen Sarg zu kümmern, an ihm zu dienen? Ist der einzige vertretbare Grund für die Mühe auf der Welt nicht der Dienst am Menschen und somit an Allah, wodurch man dem göttlichen Gebot „damit ihr mir dienlich werdet“ gerecht kommt? Wie der türkische Sufi-Dichter Yunus Emre schon sagte:

Besitztum ist vergänglich, auch das Hab und Gut Auch du vertreib damit Zeit, wie jeder es tut

Umhüllt ist der Sarg mit einer grünen, mit Qur’anversen aus Stickerei-Arbeit beschmückten Decke und mit einem Kopftuch am Kopfteil, als Zeichen des weiblichen Geschlechts. Als ob der Sarg als ein kleines Symbol in die Welt schreien wollte: „Ihm gehört, was auf der Erde und in den Himmeln ist“ und wir auf der Erde sollten uns nicht so verhalten wie in ihm, dem Sarg, den man nur von der Moschee bis zum Friedhof behaust? Nein, kein Weltverzicht, aber ein bewusst erlebtes Erhabensein über die Welt und das Weltliche.

Seit zwei Jahrzehnten nicht mehr getroffene Bekannte aus der entfernten südosttürkischen Stadt Urfa, der Geburtsstadt des Gesandten Abraham, versuchen auf dem Hof dieser 400 Jahre alten Istanbuler Moschee Trost zu spenden. „Baqi Allah“ - „Ewig ist Allah“ erinnern sie, indem sie ihr Beileid aussprechen. Baqi Allah. Wie oft vergisst man das im Laufe des Lebens bis auf solchen, kurzen Einschnitten. Für eine Weile erinnert man sich an den Tod, aber dann wenn wieder „auf sicherem Boden“ steht, schafft der Mensch so gerne seinem Namen „Insan“ alle Ehre und vergisst es. Wie oft vergegenwärtigt der Qur’an den Tod, wie oft hat der ehrwürdige Gesandte, Allahs Segen und Heil auf ihm, den Muslimen empfohlen, des Todes zu gedenken. Wie Schaikh Schadhili in seiner Litanei „Hizb ul-Bahr“ so schön formuliert hat: „Ein gütiger Herr (Rabb) ist mein Herr (Rabb)“, Der im Qur’an auf die Vergesslichkeit seines Geschöpfs hinweist und bereit und willig ist und sogar sich freut, ihm auch diesbezüglich verzeihen zu können.

Ist es nicht eine Impfung oder Therapie, dieser aus dem glückseligen Munde des Gesandten, Allahs Segen und Heil auf ihm, empfohlene imaginäre Tod in der Vorstellung? Eine Art Training, bevor es ganz zu spät und eine Rückkehr nicht mehr möglich ist, also so tun, als ob. Die imaginäre Vorstellung des eigenen Todes, genannt „Rabitatu’l-maut“, realisiert zwar das Gefühl des Todes nicht so intensiv, aber durch die weitere Empfehlung, die Gräber zu besuchen, ermöglicht es dem Muslim, ohne die Erfahrung selbst zu machen so nah wie möglich an den Tod zu kommen. Der eigene Tod wäre gewiss emotional spürbarer, aber nicht konsequent für das eigene Leben, da man aus ihm keine für das Leben relevanten Lehren mehr ziehen könnte Nach dem Totengebet fragt der Imam die Anwesenden danach, ob sie der Verstorbenen alle - falls irgendwie entstandenen - Unannehmlichkeiten von ihr verzeihen, so dass sie im Jenseits diesbezüglich nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Alle bejahen die Frage. Der Imam erinnert uns an das eigentlich nicht zu Vergessende, den türkischen Dichter Necip Fazil Kisakürek zitierend:

„Schön ist der Tod, die Botschaft aus des Schleiers Rückseite Wäre er nicht schön, würde sterben jemals der Gesandte?“

Wer kann/konnte sich denn eigentlich leisten, nicht zu sterben? Werden etwa nicht „alle Seelen den Tod kosten“? Die Seelen werden den Tod durch die Leiber kosten beziehungsweise erfahren, welche sterben werden. Die Seelen werden aber nicht sterben und ihn daher nur kosten. Tagtäglich, seit Beginn der Zeit, schmecken die Seelen es und die Leiber erfahren ihn; dann „werden wir aufgeweckt und Rechenschaft über unsere Taten ablegen“. Damit wir dies auch nicht vergessen, führt Allah uns dies jedes Jahr vor Augen; in jedem Herbst stirbt sozusagen die Flora sichtlich, und in jedem Frühling erweckt Er sie wieder; jedes Jahr werden unzählige Namen (Asmâ’) Allahs in der Natur sichtbar. „Gibt es denn niemand, der sich ermahnen lässt?“ fragt der Qur’an wiederholend. Stimmt, samt der Erde: „Alles auf ihr ist vergänglich“ und wird sterben. Durch das enge Tor des menschlichen Körpers wird die Seele hinaus gerissen werden. Wer verlässt denn gerne eine jahrelang bewohnte Behausung?

Nach der Rede des Imams nehmen anschließend die Anwesenden eilend den Sarg auf die Schultern und tragen ihn zum Leichenwagen. Jeder versucht, irgendwie mit anzupacken, was durch das Gedränge auf dem Hof nicht jedem gelingt. Nach einer kurzen Fahrt durch den Istanbuler Verkehr erreicht man das frisch ausgehobene Grab.

Etwa 1,50 Meter tief, feucht, kalt und beim ersten Hineinschauen ein unheimlicher Platz. Für den oder die wird er entsprechend der Lebensführung „entweder zu einem Garten des Paradieses oder zu einer Grube der Höhle“ werden. Wie es so schön in der arabischen Redewendung heißt: „Die Ehre eines Platzes entsteht durch den sich dort Befindenden.“

Bei diesem Furcht erregenden Anblick des Grabes kommen nur Bittgebete in den Sinn: „O Allah, erleuchte diesen Platz durch Dein Licht, verwandele ihn zu einem Garten aus den Paradiesgärten, verzeih ihr ihre Fehltritte“, wobei man Hilfe beim Gesandten für die Erhörung der Bittgebete sucht. Zwei Verwandten, in diesem Falle Bruder und Neffe, holen die Verstorbene aus dem Sarg heraus und platzieren sie im Grab mit dem Gesicht nach rechts Richtung Mekka. Holzbalken werden geholt und schräg über ihr aufgestellt, sodass sie vorab nicht direkt mit Erde bedeckt wird. Nach einigen Monaten wird das Holz durch die Feuchtigkeit die Last der Erde nicht mehr tragen können, das Grab in sich stürzen und somit eingeebnet. Der Imam rezitiert Suren aus dem Qur’an sozusagen begleitend ins Jenseits. Man beeilt sich, und in Kürze ist das Grab mit Erde bedeckt. Ein provisorisch fertig gestelltes Holzstück, das an der Kopfseite in die Erde hineingesteckt wird, gibt die Nummer des Platzes an. Mit Kugelschreibern versucht man, den Namen auf das Holz einzukratzen, bis der Grabstein ausgefertigt wird.

Die ganze Arbeit ist reine Männersache, welche nicht gerne ihre Tränen preisgeben, solange sie sich dort beschäftigen und nicht alleine sind. Nach dem durch die Anwesenden erneut das Beileid und die Worte „Baqi Allah“ ausgesprochen worden sind, werden dort so manche Tränen mit der Verstorbenen zurückgelassen. Tränen? Wieso weint man eigentlich hinter einer Verstorbenen, von der man weiß, dass sie ein Allah gefälliges Leben geführt hat und wo doch „die Barmherzigkeit Allahs alles umfasst“? Wegen der hinterbliebenen Kleinkinder? O Allah, nimm sie in Deinen Schutz so wie Du einst Deinem schutzlosen Gesandten „als Waise Geborgenheit gewährt hast.“ Wieso weint der Mensch bei einem Todesfall? Schwer zu erklären. Fallende Tränen, von denen im Qur’an gesprochen wird, sowie diesbezügliche Überlieferungen aus dem Leben des Gesandten erschweren die Suche nach der Antwort. Wegen des Schmerzes der Trennung etwa? Oder dass man jene Person nicht mehr sehen kann? Die an Gewissheit grenzende Hoffnung bezüglich ihres Platzes in Paradiesgärten kann das Trauergefühl nicht unterdrücken. Das ist das Menschliche, von dem auch Gesandten nicht verschont blieben. „Das Herz ist voll mit Trauer, und das Auge weint“ sprach das ehrwürdige Siegel der Gesandten, als sein Sohn Ibrahim als Kleinkind starb und aus seinen gesegneten Augen Tränen flossen. Wer wüsste und würde es besser kennen als einer, der bis zu einem „Abstand von zwei Bogen oder näher“ an die absolute Wahrheit kam, dass ein Kleinkind ohne weiteres das Paradies seinen Spielplatz nennen dürfte? Und wer wüsste es besser als einer, der durch den Tod beim „höchsten Freund“ angekommen ist? Ist er denn jetzt nicht zusammen mit seinem Sohn, glücklich bis in alle Ewigkeit?

Tagelang kommen immer wieder Bekannte ins Trauerhaus. Wenn sie kommen und sich hinsetzen, bitten sie am Anfang des Besuches und vor dem Abschied die Anwesenden, die Fatiha, die Eröffnungssure des Qur’an, „für das Heil der Seele der Verstorbenen und für die Seelen der gesamten verstorbenen Gläubigen und für das Wohlwollen Allahs“ zu rezitieren. Unzählige Male wird Al-Fatiha rezitiert, von jedem Besucher. Drei Tage lang übernehmen die Bekannten und Nachbarn die Verpflegung der Trauernden; bis in die Nacht versuchen sie, die Familie mit ihrem Kummer nicht allein zu lassen. Es wird aus den alten Zeiten erzählt, die Stimmung wird somit ein wenig aufgelockert und der Familie geholfen, in die Realität zurückzukehren.

In bestimmten Abständen werden für die Verstorbene manchmal der ganze Qur’an, manchmal einige Suren rezitiert, für das Seelenheil der Verstorbenen und „derjenigen Verstorbenen, deren Verwandtschaft ausgestorben ist und die jetzt in ihren Gräbern fragen: ‘Gibt es niemanden, der auch für unser Seelenheil Qur’an rezitieren würde?’“. Insbesondere das Mehl-Helva, eine kostengünstige Süßigkeit bestehend aus Mehl, Zucker, Butter und Wasser, wird zubereitet und an die Nachbarn verteilt.

Tränen fallen trotzdem ab und zu im stillen Eckchen; auch aus Männeraugen. Wenn es einem Zuteil werden soll, so öffnet Er die Augen, und der dicke Schleier der Unachtsamkeit wird gelüftet. Der Mensch, dem es gelingt, das Geschehen, das Ableben der Verwandten als „den besten Ratschlag“ zu realisieren und somit ein dem Qur’an konformes Leben zu führen beginnt, hat sozusagen Glück im Unglück.

Auch im deutschsprachigen Raum braucht man Vorbilder für eine islamkonforme Kondolenz. Die islamischen Länder bieten dafür eine große Auswahl an Traditionen, die in Jahrtausenden entstanden und islamisch sind. Da hierzulande auch muslimische Verstorbene mit ausgestorbener Verwandtschaft durchaus möglich sind, werden auch die Leser somit darum gebeten, eine Fatiha zu rezitieren „für das Heil der Seele der gesamten verstorbenen Gläubigen und insbesondere für diejenigen Verstorbenen, deren Verwandtschaft ausgestorben ist und die jetzt in ihren Gräbern fragen: „Gibt es denn niemanden, der auch für unser Seelenheil eine Fatiha rezitieren würde?“, und „für das Wohlwollen Allahs des Erhabenen“.
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