19.01.2005:
Hintergrund: Hilfe, mein Kind wird radikal!
Erfahrungsbericht über die Schwierigkeiten von Eltern und Lehrern - Von Raida Chbib

Der kleine Hassan F. ist verstört. Er hat seine Mutter mehrmals weinen sehen, obwohl doch heute ein besonders schöner Tag für ihn ist. Es ist das Fest am Ende vom Ramadan. Normalerweise ist seine Mutter heiter und lacht viel. Doch diesmal steht sie vor dem Fernseher, fasst sich mit der Hand ins Gesicht und schüttelt mit Tränen in den Augen den Kopf. Dann brechen Stoßgebete aus ihr heraus, wütende und verwünschende. Er weiß, dass sie Nachrichten schaut und dass die bösen Soldaten die armen Menschen töten. Ja, er hat alles verstanden. Die Amerikaner, denen Mc Donalds gehört, wo er früher gern gegessen und gespielt hat, die töten Muslime. Sie erschießen alle Iraker, auch Kinder. Er hat gehört, was die Erwachsenen darüber reden und er hat es selber gesehen. Im arabischen Fernsehen. Er ist nicht mehr klein, er ist schon 10. Er hat gesehen, wie ganz viele Menschen tot und blutend auf dem Boden liegen. Er hat auch ein kleines Baby mit entstelltem Gesicht gesehen, das keine Beine mehr hatte. Der Vater hielt sie in seinem Arm und brüllte ihm tränenüberströmt etwas durch den Fernseher zu. Es tat ihm so leid. Es waren die Amerikaner. Er konnte in der Nacht nicht gut schlafen.

Weltprobleme durch die Augen der Kinder Nicht nur Hassan quälen die Weltereignisse. Und nicht nur durch Nachrichten aus Kriegs- und Krisengebieten werden muslimische Kinder in Deutschland belastet. Manche Mütter berichten davon, wie das Verhalten ihrer Kinder auffällig wird. Sie bekommen die schlechten Nachrichten aus den Heimatregionen ihrer Eltern oder Bekannten durch die Reaktionen und Gespräche der Eltern oder den Satellitenempfang mit. Außerdem werden sie in den Schulen häufig mit Themen konfrontiert, die sie überfordern. Wenn etwa terroristische Anschläge oder Verbrechen thematisiert werden, die muslimische Attentäter verübt haben, dann haben sie oftmals das Gefühl, auf einer Anklagebank zu sitzen. Die Kluft zwischen der deutschen Berichterstattung, in der manche Ereignisse der muslimischen Welt ausgeblendet und lückenhaft präsentiert werden, und den ausländischen Nachrichten, die schonungslos Bilder vom Geschehen zeigen, ist groß. Sie wird auch von den ganz jungen Leuten bemerkt, die Zugang zu beiden Quellen haben. So berichtet eine Mutter, dass ihr 13-jähriger deutsch-tunesischer Junge häufig deutsche Nachrichten im Radio mitverfolgt und ihr gegenüber einmal bemerkte: „Mama, warum lügen die denn. Die Palästinenser sind doch keine Terroristen. Sie verteidigen sich nur“. Solche Fragen überfordern die Eltern. Wie soll man den Kindern die Welt erklären? Oder sollte man sie lieber von den Nachrichten fernhalten? Keine einfache Aufgabe, die Kinder in diesen Zeiten zu erziehen. Die Ereignisse drängen muslimische Kinder dazu, zu polarisieren und sich ein eigenes Gedankengebäude aufzubauen, mit einer simplifizierten Weltsicht und der schemenhaften Einteilung in Gut und Böse. Was herauskommt, kann schockieren. Eine Mutter erzählt davon, wie sie von der Lehrerin ihres Sohnes zitiert wurde. Der Sohn hatte sich vor seiner Lehrerin aufgebaut und verkündet, wenn er einen Gürtel mit Bomben hätte (Sprengstoffgürtel), dann würde er sich selbst mitsamt der Schule in die Luft sprengen. Die Lehrerin war sprachlos. Die Eltern ebenso. Das Kind kommt nämlich aus einem einfachen, moderaten Elternhaus, mit aufgeschlossenen und aufgeklärten Eltern, die radikale oder extremistische Gedanken ablehnen. Was ist also die Ursache für ein solches Verhalten, das das Kind vor seinen Eltern zu verheimlichen suchte? Wie kann sich ein Kind fern von Konfliktzonen mit solchen Taten identifizieren? Oder ist es einfach nur als eine Masche zu bewerten, mit der ein Halbwüchsiger seine Lehrerin provozieren wollte? Jedenfalls ist das kein Einzelfall. Einige Kinder radikalisieren sich vor den Augen ihrer ratlosen Eltern. Kinder, die zwischen verschiedenen Welten aufwachsen, erhalten zwar einen bereichernden Einblick in verschiedene Kulturen, Verhaltensformen und Sichtweisen. Auf der anderen Seite müssen sie aber eine ihre Persönlichkeitsentwicklung prägende Abwägungs- und Orientierungsarbeit leisten, die sehr anstrengend ist. Je größer die Unterschiede zwischen diesen Welten, desto schwieriger wird es, diese innerlich in Einklang zu bringen. Dann fällt es leichter, sich eher mit der einen oder mit der anderen Seite zu identifizieren. Wenn darüber hinaus noch Konflikte, Kriege oder Reibungspunkte zwischen den Welten bestehen, dann kann es sein, dass man die andere Welt als Bedrohung wahrnimmt und sich davon abkapselt und distanziert.

Friedenserziehung in der Krise Die Stigmatisierung oder Diskriminierung, die manche junge Muslime in ihrem Alltag erfahren, tragen dazu wesentlich bei. Aber auch ein unumsichtiger Umgang der Medien, Politiker und Lehrer mit dem Thema Islam, Muslime und muslimische Welt kann den Bruch herbeiführen und manifestieren. Bestimmte Aussagen werden gerade von jungen Menschen als ein direkter Angriff gewertet und als eine Abwertung der eigenen Person wahrgenommen. Den muslimischen Eltern kommt hier eine wichtige Aufgabe zu. Sie müssen ihren Kindern dabei helfen, die beiden Welten und die verschiedenen Weltanschauungen, in denen ihre Kinder groß werden, in Einklang zu bringen. Eine einfache Aufgabe ist dies nicht. Man kann es Friedenserziehung in der Krise nennen. Zur Zeit befindet sich nämlich das Verhältnis zwischen muslimischen Gesellschaften und westlicher Zivilisation im Umbruch. Aus dem Blickfeld der westlichen Politik werden „Islamisten“ und muslimische Terroristen als aktuelle Hauptbedrohung der westlichen Welt wahrgenommen. Aus Sicht vieler Muslime wird die derzeitige Politik der Weltmacht und ihrer Verbündeten als eine moderne Form des Imperialismus und der Unterdrückung islamischer Lebensart gewertet. Auch innerstaatlich werden die Beziehungen zu muslimischen Bürgern neu definiert. Die laufende Debatte in Europa offenbart jedoch, dass man sich nicht darüber im Klaren ist, was man an Verhaltens- oder Denkweisen der Muslime als bedrohlich für das eigene System und die eigene Kultur befinden soll und was angesichts des Menschenrechts auf Glaubens- und Religionsfreiheit zu tolerieren ist und nicht abgewertet werden darf. Diese Unentschlossenheit bekommen muslimische Kinder oftmals zu spüren. Ein junges Mädchen erzählt, wie sie von ihrer Lehrerin angefahren wurde, „das Ding“, also ihr Kopftuch, sofort zu entfernen. Das ist kein Einzelfall. Was vor wenigen Jahren niemand für möglich gehalten hätte, ist heute salonfähig geworden und wird mit dem willkürlich einsetzbaren Argument „keine falsch verstandene Toleranz“ gerechtfertigt. Aber auch die Wahl von Unterrichtsthemen, die Muslime hauptsächlich in negativem Kontext zeigen, machen muslimische Jugendliche zur Zielscheibe für Demütigung. So beklagt sich eine türkische Schülerin, dass auf ihrer Berufsschule der Politiklehrer nur Themen durchnimmt, die mit muslimischen Terroristen zu tun haben, wie die Anschläge von New York, Madrid, Beslan und so weiter. Als einzige Muslima steht sie dann unter dem Druck, dazu Stellung zu nehmen und sieht sich in einer Verteidigungsrolle. Das will sie nicht. Solche Situationen drängen auch Jugendliche aus apolitischen Familien dazu, sich verstärkt und aus eigener Quelle über die Thematik kundig zu machen. Darstellungsweisen und Erklärungsmuster, die ihnen deutsche Medien und Schulen liefern, überzeugen sie nicht, weil sie häufig Aspekte ihrer Religion in Frage stellen. Oder sie bekommen Selbstzweifel und ziehen sich lieber zurück. Oftmals aber werden sie anfällig für einfache Erklärungsmuster, die sie aus ihrer privaten Umgebung und den ausländischen Satellitensendern bruchstückartig aufschnappen und zu wirren Gedankenkonstruktionen zusammenfügen, und reagieren dann mit aggressiven Verhaltensweisen auf ihre Umwelt.

Was tun mit der Jugend? Was tun in Situationen, wo sich diese innerliche Zerrissenheit von Jugendlichen durch ungewöhnliche Verhaltensformen offenbart? Im Falle des Siebtklässlers, der seine Lehrerin schockte, hat die Mutter versucht, die Ursachen für diese Handlung herauszufinden. Ist es der neue muslimische Mitschüler, der neben ihm sitzt, durch den er sich in seinen Feind-Freund- Spielereien bestätigt fühlt? Sind es die arabischen Nachrichten, die selbst die eigenen Eltern oft nicht verkraften? Ist es die Natur des Kindes, die stärker gelotst werden müsste? Ist es die allgemeine Kampf-der-Kulturen-Stimmung in Deutschland, die in Krisenzeiten zunimmt und nicht ohne Wirkung an unseren Kindern vorbeizieht? Mäßigungs- und Verständigungsarbeit lautet hier die Devise. Lehrer, Politiker und Journalisten sowie Eltern tragen eine Verantwortung, damit die heranwachsende Generation in Friedenszeiten nicht mit einem Kampfgemüt heranreift. Gerade den Vorteil dieser Jugendlichen, beide Kulturen nachvollziehen zu können, sollte man sich dabei zu Nutze ziehen. Eltern können den Kindern Mut machen und dabei helfen, die eigene Sichtweise zu Themen, die ihnen nahe gehen, selbstbewusst in Gesprächen auch im Unterricht einzubringen. Lehrer sollten die ungewohnten Standpunkte als gleichwertiges Argument ernst nehmen und dem Kind das Gefühl geben, Experte und nicht Angeklagter zu sein. Eltern wiederum sollten konträre Sichtweisen nicht verwerfen, sondern offen dafür sein und sie sachlich mit den Kindern diskutieren. Die Frage bleibt, wie viel Kriegsnachrichten den Kindern zuzumuten sind, zumal selbst Eltern Schwierigkeiten damit haben, diese zu verkraften. Oft gehören solche Nachrichten für muslimische Migrantenfamilien zur Normalität, da in verschiedenen muslimischen Ländern Konflikte und Kriege sowie Menschenrechtsverletzungen vorherrschen und weiterhin zunehmen. Kinder mit Gewaltbildern durch Fernsehnachrichten zu berieseln und sie damit allein zu lassen, ist aber nach allen pädagogischen Maßstäben falsch und kann sehr störend auf die Persönlichkeitsentwicklung wirken. Wenn die Kinder dennoch mitschauen dürfen, dann nur unter Aufsicht und mit der Möglichkeit zur Diskussion. Dabei gilt für die Eltern - auch bei Nachrichten, die ihnen nahe gehen - die Fassung zu wahren und von emotional geleiteten Reaktionen oder Urteilen zumindest vor ihren Kindern abzulassen. Platte Statements wie „Die Amerikaner führen einen Kampf gegen Muslime“ machen keinen Sinn. Damit gießt man nur Öl ins Feuer. Anstatt derart zu verallgemeinern, könnte man auf Fakten verweisen, die zur Differenzierung beitragen und die eine blinde Wut verhindern. Darauf etwa, dass es durchaus Amerikaner gibt, die diese Kriege ablehnen. Oder dass es schon immer Kriege gegeben hat, nicht nur gegen Muslime. Das ist einfacher gesagt als getan. Wer aber dazu nicht in der Lage ist, der sollte seine Kinder in jedem Fall von solchen Nachrichten fernhalten.

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