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Der andere Islam #48787
12/03/2003 14:42
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Joined: May 2001
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Der türkische Volksglaube ist stark von der populären Mystik beeinflußt / Von Rainer Hermann

ISTANBUL, im Januar

Der Islam ist Religion, er hat aber auch einen politischen Auftrag. Denn Mohammed (Muhammad), der Prophet der Muslime, hatte in Medina einem islamischen Staat vorgestanden, der nur die göttliche Offenbarung, wie sie die Muslime im Koran finden, als Gesetzgeber akzeptierte. Einen Staat nach dem Vorbild des frühen Islam, des "Goldenen Zeitalters", zu errichten, ist bis heute für jene Muslime Ziel politischen Handelns, die nicht säkularisiert sind. Ihr Mittel, dies zu erreichen und eine angeblich gottgewollte Ordnung herzustellen, ist die Scharia, eine Rechtsordnung, die fernab vom westlichen Recht steht.

Das ist zumindest die Vorgabe im kanonisierten Hochislam. Der Islam hat sich über Jahrhunderte hinweg aber nicht allein ausgebreitet, er hat sich auch regional verschieden entwickelt. Der saudische Islam hat wenig mit dem afrikanischen gemein, die afghanischen Taliban in einen Topf mit den Muslimen Malaysias zu werfen wäre ungerecht, und im Abendland soll heute ein Euro-Islam entstehen. Auch der türkische Islam ist einen Sonderweg gegangen und hat sich vom Islam der arabischen Welt abgekoppelt.

Von allen Regionen der islamischen Welt hat sich die Türkei am frühesten für die Säkularisierung entschieden. Durchgesetzt hatten die jungosmanischen Reformer zunächst von 1850 bis 1881 fünf große Gesetzeswerke, die sich, wie das Strafgesetzbuch, stark an französische Vorbilder anlehnten. Die Verfassung von 1876 war an der belgischen orientiert. Die Europäisierung und Modernisierung, welche die Jungosmanen und Jungtürken begonnen hatten, setzte Atatürk konsequent fort. Da er die religiösen Lehranstalten abgeschafft hatte, gab es bald nur noch einen Typus des Intellektuellen: den säkularen. Der Islam konnte nicht mehr, wie in Ägypten und Iran, auf eigene Intellektuelle zurückgreifen. Daher sind heute die Denker, die den Wahlsieger Erdogan beraten, ohne Ausnahme Intellektuelle, die in einem säkularen Umfeld geprägt worden sind.

Trotz der radikalen Maßnahmen Atatürks hat der Islam in der Türkei überlebt. Wohl war er kurze Zeit gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Anschließend knüpfte er an seine alten Strukturen wieder an. Schon im Osmanischen Reich hatten die Bruderschaften, die Tarikat, die Gesellschaft mit Netzwerken durchzogen, und der Islam war Teil eines stabilisierenden Geflechts geworden. Dieser Islam war ein Bestandteil des öffentlichen Raums, und das ist er mit seinen Netzwerken bis heute geblieben. Zu sehen ist das, wenn Muslime Stiftungen gründen, um in einem neuen Viertel eine Moschee zu bauen.

Die Türken folgen weniger als andere muslimische Völker dem kanonisierten Islam. Vielmehr praktizieren sie einen von der Orthodoxie weit entfernten "Volksislam". Seinen Grund hat die Bedeutung dieses volkstümlichen Islam in der Herkunft der Türken aus Zentralasien. Dort waren sie Schamanisten gewesen. Der Schamanismus ist weniger eine Religion als ein Kult, in dem Prediger eine starke Stellung haben. Auf ihrer Wanderung nach Anatolien sind die Türken dann nicht von orthodoxen Gelehrten, den Ulema, zum Islam bekehrt worden, sondern von heterodoxen Derwischen. Die haben den Islam auch nie als legalistische Religion praktiziert. Noch heute leben die einfachen Gläubigen einen Volksislam, der Elemente der Heiligenverehrung und der Mystik enthält, aber auch des Aberglaubens. Noch heute haben in der Türkei populäre Prediger, wie Fethullah Gülen, bedeutenden Einfluß. Eindeutig nicht dem Hochislam folgen auch die Alevis. Sie stellen ein Fünftel der Bevölkerung und sind damit die größte muslimische Glaubensgemeinschaft des Landes, die nicht der sunnitischen Mehrheit folgt. Ihre Version des Islam hatte immer pantheistische und säkulare Tendenzen enthalten.

Die Türkei blickt auf eine längere Geschichte der Säkularisierung zurück als jedes andere muslimische Land, auch kennt der türkische Islam so gut wie keine Gewalt. Damit unterscheidet sich nicht allein der Islam der Türkei von dem der arabischen Welt, sondern auch der politische Islam. In der arabischen Welt ist der politische Islam als eine Kraft entstanden, um die Kolonialmächte zu vertreiben, notfalls mit Gewalt. Eine wichtige Folge der Kolonialisierung war, daß die Muslime dieser Länder der Säkularisierung und Modernisierung gegenüber feindselig eingestellt sind. Nachdem die Länder ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, mobilisierte der politische Islam die Massen gegen ihre meist repressiven Staaten.

Im Gegensatz dazu war die Türkei immer unabhängig und nie Kolonie. Nie mußten die türkischen Muslime die Waffen in die Hand nehmen, um die Kolonialmächte, wie in Algerien, mit Gewalt zu vertreiben. Ein politischer Islam entstand zwar. Getragen wurde er aber nicht von einer gewaltbereiten Laienbewegung wie in Ägypten, sondern von Scheichen aus den Bruderschaften, in denen die Mystik einen hohen Wert einnimmt. Entwickelt hat sich der türkische politische Islam dann in einem demokratischen Umfeld und in einem säkularen Staat, als politische Partei in einem parlamentarischen System und in einem Land, das Aufstiegschancen bietet.

In diesem politischen Islam ist Erdogan, der Wahlsieger vom 3. November, groß geworden. Einen seiner Söhne nannte er nach Necmettin Erbakan, dem Veteranen des türkischen politischen Islam. Die Wege der beiden trennten sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Erbakan hatte den Verdacht nie entkräften können, nicht doch die Einführung der Scharia zu betreiben. Von diesem "traditionalistischen" Flügel spalteten sich die "Modermisten" unter Erdogan ab und gründeten schließlich die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Sie versteht sich als konservative Partei. Nicht zu leugnen sind aber ihre islamistischen Wurzeln.

Von dieser islamistischen Vergangenheit gelöst hat sich Erdogan aus einer Reihe von Gründen. Einsehen mußte er, daß gegen das Establishment der Republik, vor allem das Militär und die nicht minder auf Atatürk eingeschworene Justiz, keine Politik betrieben werden kann. Zudem haben die vergangenen Jahre den politischen Islam als Utopie gründlich entzaubert. Überall dort scheiterte er kläglich, wo er in der Alltagspolitik konkrete Probleme zu lösen hatte, die über Karitatives hinausgingen. Erdogan hat das gewiß erkannt. Wie jedem anderen Politiker ist auch ihm zuzugestehen, daß er dazulernt und sich weiterentwickelt.

Das nehmen zumindest die beiden türkischen Sozialwissenschaftler Metin Heper und Sule Toktas von der renommierten Bilkent-Hochschule in Ankara an. In einer unveröffentlichten Studie kommen sie zum Ergebnis, daß der heutige Erdogan nicht im Widerspruch mit einem liberalen und demokratischen Staat stehe. Sie verwerfen die Behauptung, daß sein Ziel die Islamisierung des Staats oder die Oktroyierung eines islamischen Lebensstils sei. Bereits in seiner Amtszeit als Oberbürgermeister Istanbuls habe er die Prinzipien des säkularen und demokratischen Staats nicht in Frage gestellt, schreiben sie. Vielmehr sei ihm daran gelegen, auf der moralischen Grundlage, die der Islam biete, Politik zu betreiben und soziale Verantwortung zu übernehmen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.01.2003, Nr. 3 / Seite 8

Re: Der andere Islam #48788
12/03/2003 18:00
12/03/2003 18:00

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Kleiner Hinweis zu den verschiedenen "Gruppierungen" im Islam ("Euroislam", türkischer Islam, Mystik....)

Link:
http://www.al-islaam.de/pdf/gruppen_paradies.pdf