„Der Beitrag“: Islam in Deutschland
Wo die Muslime sind, wo sie hin wollen und worin ihre Probleme liegen - Erster „Beitrag“ von Hadsch Abu Bakr Rieger

In der losen Serie „Der Beitrag“ lädt die „Islamische Zeitung“ Muslime in Deutschland zu einem Beitrag über ihre Situation ein. In möglichst klaren Worten soll „Der Beitrag“ zeigen, wo die Muslime stehen, wo sie hin wollen und worin ihre Probleme liegen. Gerne nehmen wir auch Antworten auf bereits veröffentlichte Beiträge an und veröffentlichen Leserbriefe zum Thema. Auch kritische Beiträge von Nichtmuslimen sind herzlich willkommen.

Ausgangslage - Not und Ist-Zustand

Die Muslime in Deutschland neigen nicht gerade zur Ungeduld. Seit Jahren dreht sich der Versuch, eine politische Repräsentanz zu formieren und einige überfällige Rechte einzufordern, im Kreis. Weder dem Zentralrat noch dem Islamrat ist es bisher gelungen, seine Verhandlungsposition gegenüber der Regierung entscheidend auszubauen oder etwa im Interesse der Muslime in Deutschland sich zusammenzuschließen. Der Zustand der rechtlichen Benachteiligung ist aber weder für Regierung noch für Muslime auf Dauer wünschenswert. Nur auf der Grundlage der Akzeptanz und rechtlichen Gleichstellung wird man auch den positiven und solidarischen Beitrag von Muslimen abrufen können. Während der Islamrat nach internen Streitigkeiten vor der Spaltung steht, hat der Zentralrat zumindest durch professionelle und kontinuierliche PR-Arbeit einigen Boden in Berlin gut gemacht. Vor allem auf der Beamtenebene, auf Fachdiskussionen und Ausschüssen - so hört man - geht es langsam und einigermaßen stetig voran, wenn auch ohne ein deutliches Signal der Politik, „wohin die Reise gehen soll und vor allem klarer Zeichen, dass man auch einmal ankommen wird“. Natürlich hat an der Stagnation nicht nur die Regierung Schuld. Man kann nicht leugnen, dass fast alle politischen Zusammenschlüsse von Muslimen auf nationaler und lokaler Ebene noch immer durch „Außeneinflüsse“ bestimmt -manche sagen paralysiert-werden. Wir kennen das Wirken von Botschaften, Drittstaaten und ausländischen Organisationen in diesem Kontext, sehen auch Langzeitfolgen alter, längst vergangener Grabenkämpfe der unterschiedlichen Fraktionen. Sie sind ein wenig langweilig geworden. Die politische Konfliktlage ist im Grunde importiert, denn was es in Deutschland zu tun gäbe ist - spätestens seit dem 11. September - kaum umstritten und bietet eigentlich den Grund für eine schnell wachsende Einheit. Die Sorgenliste ist ja allgemein bekannt. Es fehlt nicht nur an gesellschaftlicher Akzeptanz, sondern auch an Anerkennung, Infrastruktur, Medienpräsenz und Schulen. Das schwere politische Geschäft der Institutionen ist durch finanzielle Not, mangelnde Fachkräfte und konzeptionelle Unsicherheiten geprägt. Leider hat es keines der ambitionierten Projekte bisher geschafft, in Berlin sichtbare Präsenz aufzubauen. Aus islamischer Sicht überrascht nicht, dass es politisch bisher nicht gelungen ist, „die Herzen“ der Funktionäre zusammenzubringen. Zu unterschiedlich sind die politischen Prägungen der maßgeblich beteiligten Mitgliedsorganisationen und die latenten Strategien des eigenen Machtausbaues.

Nicht dass man dies missversteht, die heute vorzufindende Vielfalt islamischen Lebens ist zweifellos auch ein Glück, ein Vorteil und eine von Muslimen gewollte Realität, nur - ganz ohne politische Stimme wird die Lage der Muslime - soweit es um die Forderung nach ausstehenden Rechten geht, auch nicht unbedingt besser. Warum sollten wir Muslime eine solche, klar umrissene Aufgabe nicht einvernehmlich delegieren? Es gibt eben Fragen, die sich nicht lokal lösen lassen. Auch die Präsenz einiger Muslime in den Parlamenten würde den Muslimen gegenüber eine wichtige Signalfunktion beinhalten. Im Endeffekt wird hier daher für eine neue Balance verschiedenartiger Ansätze plädiert. Es geht nicht um die Abschaffung der Räte und Interessenverbände, wohl aber um eine neue Gewichtung und Ergänzung. Die Stiftungen - was wollen wir Muslime? Was die Interessen der Muslime jedenfalls anbelangt, sollte man sich klarmachen, dass eine rein „politisch“ verfasste nationale Strategie auch Risiken beinhaltet. Die bekannten Mehrheitsverhältnisse in den Dachverbänden lassen wohl auch keine unmittelbare demokratische Verfassung oder so etwas wie wirklich freie Wahlen zu. Es könnten schlicht weitere Jahre vergehen ohne eine Verbesserung der sozialen und gesellschaftlichen Lage von Muslimen. Die Zeit drängt aber. Die Reduzierung des Islam auf Politik und damit die Reduzierung von Muslimen als „Organisationsmitglieder“ treibt heute bereits seltsame Blüten. Eine Moschee, ein Friedhof oder eine Schule ist nicht das Geschäft einer politischen Organisation und so sinnwidrig wie ein CDU-Kindergarten oder eine SPD-Schule. Eine Moschee, ein Friedhof, ein Kindergarten ist eine Dienstleistung für alle Muslime - unabhängig ihrer politischen oder nationalen Zugehörigkeit. Verstärkt wird diese Unsitte, wenn die beteiligten politischen Organisationen „ausländisch“ beeinflusst werden oder sowieso nur im Ausland „investieren“.

Dieses Problem ist nicht neu - dieses Problem der Einflussnahme der Politik auf die islamische Gemeinschaft ist alt. Aus Gründen der Balance sind es daher die Stiftungen, die bewusst dem politischen Arm oder politischer Macht entzogen sind und eine Art „islamische und basisdemokratische Zivilgesellschaft“ darstellen. Die Bundesrepublik bietet rechtlich interessante Möglichkeiten, im Einklang mit den Gesetzen islamische Stiftungen ins Leben zu rufen. Machen wir uns kurz klar, was ist eigentlich das Wesen einer Stiftung? Wir wissen alle, dass der Stiftungszweck und die Organisation der Stiftung nicht aus politischen Gründen beeinflusst oder verändert werden kann. Die Stiftung ist der wesentliche Bestandteil islamischen Lebens. Traditionell hatten die Frauen in diesen Stiftungen eine überaus starke Rolle. Jeder Historiker wird es wohl bestätigen: Jede islamische Zivilisation auf höherem Niveau war und ist entscheidend von Stiftungen geprägt gewesen. Man denke nur an das Beispiel Bosniens, wo zwei Drittel des Territoriums in den Händen von Stiftungen lagen. Man könnte nun fragen, warum das Stiftungswesen in Deutschland so unterentwickelt ist. Die Antwort ist banal. Politischen Funktionären und ihren modernen Organisationstechniken ist das Stiftungswesen natürlich eher fremd geblieben. Der Grund dafür ist menschlich logisch: eine Stiftung kann man politisch nicht instrumentaliseren, kann man nicht völlig kontrollieren, kann man nicht fremdsteuern, kann man nicht zentralistisch verwalten. Die Freiräume der Stiftungen ermächtigen die Muslime, nicht die Organisationen. Im Umkehrschluß sind Stiftungen die auf Dauer angelegten, eher lokalen Kleinode der Muslime und damit ein freiheitlicher Aspekt der muslimischen Gemeinschaft. Wer immer sich berufen fühlt, die Interessen der Muslime in Deutschland zu vertreten, sollte - so zumindest aus meiner Sicht - gekennzeichnet sein durch seinen Einsatz für ein islamisches, unabhängiges Stiftungswesen. Das Stiftungswesen sollte natürlich mit bestehenden Institutionen zusammenarbeiten, aber auch als Struktur personell und organisatorisch von den politischen Repräsentanzen getrennt sein. Mein Eindruck ist, dass dies genau das ist, was die - ja durchaus großzügigen - Muslime in Deutschland nun brauchen. Es ist nun Aufgabe der wachsenden Zahl muslimischer Juristen, nicht nur Satzungen für Stiftungen auszuarbeiten, sondern auch den islamischen Gemeinden die Vorzüge von Stiftungen ans Herz zu legen. Auf nationaler Ebene könnten die unterschiedlichen Gemeinschaften Treuhänder bestimmen, die infrastrukturelle Interessen mit einer nationalen Stiftung betreuen. Im Stiftungswesen der Muslime liegt nicht nur eine wichtige Komponente der Abmilderung und Machtbeschränkung politischer Organisationsformen, sondern letztlich auch das positive Angebot an die deutsche Gesellschaft. Gerade in der sozialen Kompetenz und dem sozialen Einsatz von Muslimen könnte der konstruktive Beitrag des Islams in Europa in den nächsten Jahren verborgen sein. Der politische Blick hat bisher verhindert, dass soziale oder ökonomische Projekte von Muslimen auf den Weg kamen.

Die Gelehrten - wer lehrt den Islam eigentlich?

Ein weiterer wichtiger Aspekt des islamischen Lebens ist natürlich die islamische Gelehrsamkeit. Diese Lehre und die Vielfalt des Austausches ist traditionell unabhängig von alltäglicher und direkter politischer Einflussnahme. Politische Organisationsformen neigen dazu, die „Lehre“ als eine Unterfunktion ihrer eigenen Machtausübung zu verorten und unterzuordnen. Der Gelehrte wird zum Angestellten. Ein Gespräch der Gelehrten untereinander findet heute praktisch nicht statt. Nur so konnten sich die Moscheen überhaupt als Teil politischer und pseudo-nationaler Strukturen zweckentfremden lassen. Hierher gehört die Debatte um die lokale Erhebung der Zakat, deren unmittelbare soziale Funktion sonst weitestgehend verloren geht. Das soziale und ökonomische Wissen des Islam, also das Know-how, wie lebendige islamische Gemeinden entstehen und verfasst sind, ist heute augenscheinlich verloren gegangen. Oft genannt ist ja auch die Forderung nach eigenen Lehrstätten und Lehrstühlen. Diese Forderung ist berechtigt, die berühmten Lehrstätten der arabischen Welt haben dramatisch an Akzeptanz verloren, sind sie doch häufig und augenscheinlich der jeweiligen Regierungspolitik unterworfen. Die Neigung, ausländische Lehrinstitutionen in ihrer Bedeutung für uns Muslime in Deutschland überzubewerten, wirkt nach Jahrhunderten islamischen Lebens in Europa reichlich antiquiert. Zunehmend wird auch die Beherrschung der deutschen Sprache für den Sinn einer Lehrtätigkeit ein überaus wichtiges Kriterium. Wie sonst soll einer Generation, die in Deutschland aufwächst, der Islam vermittelt werden? Jedem Imam müsste es auch zu denken geben, was es für seine Gemeinschaft und ihre Kinder hier heißt, wenn sich jeden Freitag nur eine bestimmte Volksgruppe hinter ihm versammelt. Notwendig sind eine unabhängige islamische Lehre und vor allem auch unabhängige islamische Lehrer. Dies ist im In- und Ausland längst nicht immer der Fall. Auf dem schwierigen Grad zwischen Bewahrung der islamischen Glaubensgrundsätze, Zurückweisung des Extremismus und der Einbettung des Islam in die europäischen Gesellschaften liegt eine große Herausforderung. Die islamische Lebenspraxis muss hier den mittleren Weg zwischen den Extremen des Fundamentalismus und Esoterismus finden. Im Interesse der Muslime ist es heute allemal, dass eine islamische Gelehrsamkeit in Europa sich auf nachvollziehbarer Grundlage ausbildet und auch emanzipiert von äußerer Fremdbestimmung. Die in Deutschland ausreichend vorhandenen Gelehrten der großen Rechtsschulen beispielsweise könnten gemeinsam die Grundsätze islamischer Wissensvermittlung ausloten. Überfällig ist in Europa immer noch - zumindest aus meiner Sicht - eine klare islamisch begründete Zurückweisung jedes Terrorismus. Selbstredend wird es auch einige Fragen der Rechtsentwicklung geben, die man am Besten gemeinsam behandelt.

Die Dienstleister - warum nicht fördern, was man fördern kann?

In den meisten Fragen der Religionsausübung bestehen bereits große Gemeinsamkeiten. Vor allem die Muslime, die durch konkrete Projekte den Muslimen dienen, sind - so zumindest meine Erfahrung - immer auch kooperationsbereit. Man muss diese Muslime zusammen bringen, ihre Projekte und Probleme bekannt machen. Wer würde die Notwendigkeit von Hilfsorganisationen, die Notwendigkeit von Jugendarbeit oder den Ruf nach überparteilichen Medienprojekten in Frage stellen? Eigentlich niemand. Ein bundesweites Netzwerk und Zusammenschluß dieser Organisationen würden einige Synergieeffekte ermöglichen. Darüberhinaus haben diese Zusammenschlüsse einen weiteren, immens wichtigen Vorteil: sie bringen Muslime, die hier leben, jenseits der nationalen Zugehörigkeit zusammen. Diese Aktivitäten richten sich auch sinnvollerweise mehr an Projekten aus und nicht etwa an dem langfristigen Gedanken, einen maßgeblichen „Überverein“ einzurichten, der es dann für alle „richtet“. Wirklich islamisches Leben wird generell nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben organisiert sein müssen. Was also tun? Die lokalen und nationalen Interessenverbände in Deutschland sollten bestärkt werden, auch ihre „Innenfunktion“ wahrzunehmen und den Muslimen auch nach innen den Weg und das Ziel zu vermitteln. Der Austausch zwischen Dachverbänden, Mitgliedsorganisationen und Muslimen ist bisher kaum ausgeprägt. Ein weiterer Punkt ist für mich allerdings essentiell: Bei allem Verständnis für die politischen Ziele der Interessenverbände sollten sie auch mitwirken, dass ein unabhängiges Stiftungswesen für alle Muslime entstehen kann. Letzendlich wird im Zentrum des islamischen Lebens in Deutschland die Moschee stehen, die wiederum nicht Glied einer politischen Organisation, sondern mehr der eigentliche Motor des sozialen Lebens vor Ort darstellt. Geduld ist eine hochangesehene Eigenschaft im Islam - aber ein wenig Leben in die Debatte zwischen Muslimen zu bringen, ist eben auch manchmal angebracht.

http://www.islamische-zeitung.de/berlin/index.html