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Beide Volkswirtschaften haben sich dem Massentourismus geöffnet und hängen stark vom Urlauberstrom ab

Von Nikolaus Nowak

Madrid - Das Bekennervideo der islamischen Terror-Organisation Al Qaida zum Anschlag auf die Synagoge von Djerba, bei dem am 11. April 21 Personen, darunter 14 Deutsche, ums Leben kamen, und die jüngsten Festnahmen in Marokko belegen den Verdacht, dass die fundamentalistischen Mordkolonnen im Maghreb eine neue Front eröffnet haben.

Dabei wird Marokko und Tunesien die relative Offenheit der Regime zum Verhängnis: In beiden Ländern leben Moslems und Juden friedlich zusammen - in Tunesien sind es 2000, in Marokko 5000 Juden -, beide Volkswirtschaften haben sich dem Massentourismus geöffnet und hängen stark vom Urlauberstrom ab, beide Regime halten sich aus dem Nahost-Konflikt weit gehend heraus und kanalisieren propalästinensische Stimmungen über kontrollierte Demonstrationen. Ein Überschwappen der Gewalt von Algerien, ein Horrorszenario in Tunis und Rabat, hat Tunesiens Präsident Zine el Abidine Ben Ali durch Inhaftierungswellen und polizeistaatliches Durchgreifen bislang unterdrückt. König Mohammed VI. von Marokko spaltete die islamistische Bewegung und lässt die verbotene Gruppe "Al Adl wal Ihsan" (Gerechtigkeit und Spiritualität) als außerparlamentarische Opposition in Maßen gewähren.

Nachrichten über Evakuierungen tunesischer Hotels nach Hinweisen aus deutschen Sicherheitskreisen und die Ermittlungsergebnisse der Mitte Mai in Casablanca gefassten Saudi-Arabern, die neben Attentaten auf westliche Kriegsschiffe in der Straße von Gibraltar auch Übergriffe auf Reisebusse und touristische Ziele geplant hatten, lassen aufhorchen: Al Qaida könnte mit Anschlägen auf jüdische Silberschmiede in den Souks oder den berühmten "Djemma el Fna", den viel besuchten "Platz der Geköpften" in Marrakesch ähnlich wie auf Djerba den Tourismus vertreiben. Schon sind die Besucherzahlen in Tunesien um 39 Prozent, in Marokko um 30 Prozent gesunken. Doch während die im Hinterland ohnehin verarmten Staaten die Einkommenseinbußen leichter verkraften, hätten die Regierungen ihre Not, massive Einsätze gegen Moslems zum Schutz von Urlaubern oder Juden zu rechtfertigen.

Zwar haben sich die tunesischen Islamisten der Ennahda-Partei im Londoner Exil ebenso wie die marokkanischen Islamisten immer von Al Qaida distanziert. "Bin Laden kommt aus der radikalen Schule des saudi-arabischen Wahhabismus, wir entspringen dem liberalen Sufismus, der Toleranz, Nächstenliebe und Gewaltfreiheit lehrt", sagte Nadja Yassine, Führerin von Al Adl wal Ihsan, der WELT. Doch andere wie der marokkanische Scheich Al Fizazi betonen, "die Pflicht jedes Moslems ist, Moslems zu unterstützen, ob sie nun Al Qaida angehören oder nicht".

Kommen das Alawitenreich oder das tunesische Präsidialregime aus dem Gleichgewicht, drohen neben inneren Revolten auch Grenzkonflikte - mit Algerien und in der ehemals spanischen Kolonie Westsahara. Den an Eisen und Phosphat reichen Landstrich will sich Marokko einverleiben, Algier will sich den Zugang zum Atlantik sichern. An einem neuen Krisenherd in Nordafrika haben die USA kein Interesse. Deshalb kooperieren sie eng mit den maghrebinischen Geheimdiensten und stellen auch keinen Auslieferungsantrag für die drei in Marokko gefassten Al-Qaida-Mitglieder.