"Verglichen mit Muslimbrüdern ist al-Qaida armselig"

Der ausgestiegene Muslimbruder Abd al-Gelil al-Sharnoby spricht im Interview über die Ideologie der Organisation – und ihre Macht. Er sagt: Im Vergleich zur Muslimbruderschaft ist al-Qaida armselig. Von Liza Ulitzka
Anhänger des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi beten vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde in Kairo für dessen Rückkehr in den Präsidentenpalast
Foto: picture alliance / dpa Anhänger des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi beten vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde in Kairo für dessen Rückkehr in den Präsidentenpalast

Eine sektenartige Gruppierung mit bewaffneter Miliz, die Verbindungen in die ganze Welt hat – so beschreibt der ägyptische Journalist und Regisseur Abd al-Gelil al-Sharnoby die Muslimbruderschaft, aus der auch der gestürzte Präsident Mohammed Mursi (Link: http://www.welt.de/themen/mohammed-mursi) stammt. Der 38-Jährige war 23 Jahre lang Mitglied der Organisation und ist nun einer ihrer schärfsten Kritiker.

Die Welt: Wie kamen Sie zur Muslimbruderschaft?

Abd al-Gelil al-Sharnoby: Mit 13 Jahren wurde ich Mitglied. Doch dann habe ich die Muslimbrüder nach der Revolution im Mai 2011 verlassen. Ich wollte bereits unter Husni Mubarak gehen, aber das konnte ich nicht tun. Das hätte ein schlechtes Licht auf die Opposition geworfen. Ich habe das erste Mal von ihnen gehört, als ich in Saudi-Arabien war. Ich ging mit meinem Vater in Riad zur Universität und besuchte Vorlesungen von zwei Gelehrten der Muslimbruderschaft. Ich bin religiös erzogen worden, mein Vater war Gelehrter der Al-Azhar-Universität. Also interessierte auch ich mich für eine islamische Bewegung. Zurück in Ägypten, ging ich zu einer Moschee in Damanhur, wo sich die Muslimbrüder trafen, und wurde Mitglied. Mein Traum war und ist immer noch, eine islamische Repräsentanz zu haben, die die Kultur und den Menschen respektiert. Sie muss nicht unbedingt regieren, denn wie sich gezeigt hat, hat das nichts mit dem realen Leben zu tun. Ich habe die Muslimbruderschaft schließlich verlassen, weil ich mich betrogen fühlte.

Die Welt: Was meinen Sie damit?

al-Sharnoby: Die Muslimbrüder predigen immer: Wir wollen eine Reform, wir wollen nicht regieren. Zum Ende meiner Mitgliedschaft hatte ich viel Kontakt mit den führenden Köpfen in der Muslimbruderschaft. Ich war der Chefredakteur von "Ichwan online" (Website der Muslimbrüder, d. Red.), verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit und hatte viel mit dem Leitungsbüro zu tun. Dabei habe ich festgestellt, dass alle vom Leitungsbüro ausgehenden Aktionen zum Ziel hatten, irgendwann einmal zu regieren. Eine Reform wollten sie nicht, obwohl sie das immer behauptet hatten. Ein berühmtes Zitat bei den Muslimbrüdern war: Man muss erst den islamischen Status im Herzen haben, dann kann man ihn im Leben verwirklichen. Das ist nur Propaganda, auch um Mitglieder anzuziehen. Mit der Revolution wurde die Situation klarer, sofort haben die Muslimbrüder begonnen, Absprachen mit dem alten System zu treffen. Am Ende sah ich, dass sie die Religion benutzen, um an die Regierung zu kommen – um jeden Preis. Allein darum geht es ihnen. Es geht weder um den Islam noch um eine Reform. Ich konnte dort nicht bleiben, weil das völlig meinen Überzeugungen widersprach. Als ich sie verließ, war ich der zweitwichtigste Medienverantwortliche. Ich hätte sehr viele Vorteile haben können, wenn ich geblieben wäre. Aber ich konnte meine Vorstellungen nicht mehr mit ihrer Ideologie vereinbaren.

Die Welt: Warum ist Ihnen diese falsche Ideologie nicht schon früher aufgefallen?

al-Sharnoby: Die Struktur der Muslimbruderschaft ist pyramidenförmig aufgebaut. Der oberste Führer und das Leitungsbüro stehen an der Spitze und kontrollieren die gesamte Struktur bis in die kleinste Zelle. Das Leitungsbüro ist die dominierende Einheit, die kontrolliert, alle Entscheidungen trifft, plant und mit Außenstehenden verhandelt. Die normalen Mitglieder in der Gefolgschaft sind gute Menschen, aber sie werden von den Führern benutzt. Die Masse glaubt, sie kämpfe für den Sieg. Ein Mitglied zahlt den monatlichen Beitrag, klebt Plakate, geht zu Demonstrationen, alles für den Sieg des Islam. Doch nach der Revolution machten die Führer der Muslimbrüder alles, was das Mubarak-Regime auch gemacht hat, und benutzten den Islam als Legitimation. Sie schickten ihre Mitglieder zum Präsidentenpalast, um Leute zu verprügeln, die angeblich Feinde des Islam (Link: http://www.welt.de/themen/islam) seien. Sie rechtfertigten politische Fehler, die Beziehungen zu Israel oder Verhandlungen mit den USA mit dem Argument, das sei alles nicht von langer Dauer, aber notwendig, um dem Islam gerecht zu werden. Die Muslimbrüder haben zwar eine Idee davon, wie ihr Land sein soll, aber die wird von einem ideologisch verbohrten Leitungsbüro ignoriert.

Die Welt: Es wurde ein Anschlag auf Sie verübt, nachdem Sie die Muslimbruderschaft verlassen haben?

al-Sharnoby: Ja, als ich begann, über die Muslimbruderschaft zu sprechen und zu schreiben. Der Sekretär des obersten Führers forderte mich auf, damit aufzuhören. Aber das tat ich nicht. Sechs Monate später, als ich gemeinsam mit einem Freund von einer Hochzeit nach Hause kam, feuerten drei Maskierte mit Maschinenpistolen auf mein Auto. Die Kugeln verfehlten mich nur knapp. Ich denke, sie wollten mich nicht töten. Aber sie wollten mir zeigen, dass sie es könnten.

Die Welt: Der vom Militär gestürzte Präsident Mursi hat immer behauptet, er sei nicht mehr mit der Muslimbruderschaft verbunden. Ist das vorstellbar?

al-Sharnoby: Es ist unmöglich für ein Mitglied, die Muslimbruderschaft zu verlassen, wenn es eine Position erreicht hat, die für die Organisation von großem Nutzen ist. Mohammed Mursi war Präsidentschaftsagent der Muslimbrüder, wenn man so will. Auch als Präsident traf er regelmäßig die Zelle, das ist die kleinste strukturelle Organisationseinheit in der Muslimbruderschaft. Er war umgeben von Leuten, die im Kontakt zum Leitungsbüro standen. Er konnte keine Entscheidung ohne das Leitungsbüro treffen.

Die Welt: Was genau ist die Zelle?

al-Sharnoby: Eine der wesentlichen Pflichten eines Mitgliedes ist es, an den Treffen dieser Zelle teilzunehmen. Wenn ein Mitglied befördert wird oder in eine hohe Position kommt, wird es angehalten, seine Beziehung zur Bruderschaft geheim zu halten. Letzten Endes ist das eine internationale Geheimorganisation. Die Mitglieder in Ägypten, in Amerika, in Afrika – sie haben alle einen Führer und das Leitungsbüro, die sie kontrollieren. In einer Zelle ist man normalerweise unter Leuten desselben Alters oder eines ähnlichen Bildungsniveaus. So wird die Muslimbruderschaft organisiert und geleitet.

Die Welt: Was will die Muslimbruderschaft in Ägypten erreichen?

al-Sharnoby: Fragen wir lieber, was die Muslimbruderschaft in der Welt erreichen will. Hauptziel ist, eine starke internationale Organisation zu etablieren. Egal, ob man es Kalifat oder Union nennt – sie haben ein Projekt und sie arbeiten daran. Ägypten ist die Zentrale, von hier wird die internationale Verbreitung gesteuert. Sie haben Gruppen in 88 Ländern der Welt und halten Konferenzen in Europa, in der Türkei und den USA ab. Die westlichen Regierungen wissen von ihrer Existenz, aber sie unterschätzen die Tragweite oder stellen sich dumm. Unter Mubarak haben sie noch mit Mubarak verhandelt, jetzt verhandeln sie direkt mit US-Präsident Barack Obama.

Die Welt: Wollen sie auch islamischen Terror verbreiten?

al-Sharnoby: Wir müssen zwischen al-Qaida und der Muslimbruderschaft unterscheiden. Die Muslimbruderschaft ist eine Ideologie mit einer internationalen Struktur. Al-Qaida ist nur eine Ideologie mit ein paar Zellen. Verglichen mit der Muslimbruderschaft ist al-Qaida geradezu armselig. Die Muslimbruderschaft benutzt al-Qaida für gewalttätige Aktionen, aber ich betrachte al-Qaida nur als kleines Rädchen in der Muslimbruderschaft.

Die Welt: Hat die Muslimbruderschaft eine bewaffnete Miliz in Ägypten?

al-Sharnoby: Der größte Flügel davon ist in Palästina. Hassan al-Banna, der Gründer der Bruderschaft, schuf auch einen bewaffneten Arm und nannte ihn Spezialtruppe. Diese Gruppe unternahm später Operationen in Ägypten gegen Ägypter. Die Führer glauben bis heute: Wir sind eine Organisation, wir können sie benutzten wann und wie immer wir wollen. Wo immer wir Waffen brauchen, werden wir Waffen einsetzen, wie in Afghanistan, in Palästina, im Jemen, im Sudan. Hier in Ägypten ist ein Teil der Gruppe bewaffnet. Zu Mubaraks Zeiten gab es Sicherheitskomitees. Die waren nicht bewaffnet, aber einsatzbereit bei Zusammenstößen. Die Muslimbruderschaft ist eine Organisation, die auf bedingungslosem Gehorsam beruht. Ein Mitglied kann niemals Nein sagen, weil jede Anordnung aus dem Leitungsbüro als Befehl Gottes verstanden wird. Das ist die Ideologie der Muslimbrüder, wie sie Hassan al-Banna festgelegt hat. Das Verhältnis zwischen einem Mitglied und seinem Vorgesetzten ist wie das zwischen einer Leiche und ihrem Wäscher. Jemand der solche Eigenschaften hat, wird schlafen, wenn man es ihm befiehlt. Und wenn man ihm sagt, er soll Waffen tragen, dann wird er Waffen tragen.


Quelle:http://www.welt.de/politik/ausland/article117806369/Verglichen-mit-Muslimbruedern-ist-al-Qaida-armselig.html