Schleswig-Holstein
Strahlentherapie in Tunesien
Jürgen Schultze

Mit Tunesien verbinden die meisten Deutschen weiße Mittelmeerstrände, mit Palmen bestandene Oasen, die Bilder Klees und Mackes und vielleicht noch die dynamische Hauptstadt Tunis mit ihren kulturellen Schätzen und der hervorragend erhaltenen Altstadt. Dabei gerät allzu schnell in Vergessenheit, dass Tunesien ein immer noch relativ armes Entwicklungsland mit allen daraus resultierenden Schwierigkeiten ist. Das gilt auch für die medizinische Versorgung, die in ihrer Breite mit den Verhältnissen in Deutschland nicht vergleichbar ist. Gleichwohl nötigt die eigene Inaugenscheinnahme medizinischer Behandlung vor Ort einem doch Respekt ab, auf welchem Niveau eine Versorgung angeboten wird.

Eine solche Gelegenheit hat sich mir geboten, nachdem ich von der Strahlentherapie-Abteilung der Medizinischen Fakultät in Tunis zu einem Besuch eingeladen wurde. Die dortigen Kollegen hatten über Medline erfahren, dass an der Kieler Universität einschlägige Erfahrungen mit der Strontium-Kontaktbehandlung gutartiger Erkrankungen des vorderen Augenabschnittes vorliegen, die in entsprechenden Fachzeitschriften publiziert wurden. Da die Universität in Tunis mit solchen Strontium 90-Augenapplikatoren durch die WHO neu ausgerüstet worden ist und ebenfalls solche Therapien durchzuführen plant, nahmen die tunesischen Kollegen Kontakt auf und baten um entsprechende Ausbildungshilfe.
Tunesien ist ein Land mit 9,8 Mio. Einwohnern, pro Jahr rechnet man mit 8 000 Neuerkrankungen an Krebs. Neben einschlägigen chirurgischen und internistisch-onkologischen Einrichtungen wird für die Behandlung solcher Erkrankungen auch eine Strahlentherapie in drei Zentren, in den Städten Tunis, Sousse und Sfax, vorgehalten, wo mit insgesamt 11 Therapiegeräten Bestrahlungen durchgeführt werden. Größte dieser Einrichtungen ist das Institut Salah Azaiz der Medizinischen Fakultät der Universität Tunis, das von Prof. Mongi Maalej geleitet wird. In diesem Institut werden jährlich 1 500 Patienten in der Teletherapie, zusätzlich 200 Patienten in der Brachytherapie behandelt. Das Institut ist gleichzeitig eine Lehreinrichtung der Universität sowie ein nationales Tumorbehandlungs- und Forschungszentrum. Die technische Ausrüstung entspricht, gemessen an deutschen Verhältnissen, in etwa dem Stand vor 20 Jahren. Es werden ein Linearbeschleuniger, zwei Kobaltgeräte sowie zwei Iridium- und Cäsium-Afterloadinggeräte benutzt. Zusätzlich sind alte Röntgentherapiegeräte im Einsatz. Fünf Ärzte, ein Physiker und 17 MTAs behandeln die Patienten, zusätzlich besteht eine Bettenstation mit 20 Betten für Patienten mit Radio-/Chemotherapien oder interstitiellen/endokavitären Brachytherapien. Nimmt man die Einrichtungen in Sousse und Sfax hinzu, wo jährlich etwa 500 Patienten mit jeweils einem Kobaltgerät bestrahlt werden, zeigt sich, dass in Tunesien lediglich
30 % der Tumorpatienten im Verlauf ihrer Erkrankung mit einer Strahlentherapie versorgt werden. Der übliche Anteil entsprechend bestrahlter Patienten in Deutschland ist 60 bis 70 %.

Damit ist, verglichen an zentraleuropäischen Verhältnissen, eine erhebliche Unterversorgung zu beklagen. Dies umso mehr, da in Tunesien die fortgeschrittenen Tumorerkrankungen deutlich in der Überzahl sind. Mammakarzinome werden etwa erst bei einer Durchschnittsgröße von 5,5 cm diagnostiziert, so dass ein erheblicher Bedarf sowohl an kurativen wie auch an palliativen Behandlungen besteht. Ähnliches gilt für die anderen, häufigen Tumorentitäten. Kapazitätsausweitungen sind aus Geldmangel kurzfristig nicht zu erwarten, obwohl auch in Tunesien tendenziell die Zahl der Krebserkrankungen zunimmt. Dies wird von den behandelnden Ärzten umso schmerzlicher empfunden, als die modernen Informationstechnologien auch in Tunesien die üblichen Behandlungsstandards bekannt gemacht haben und die dortigen Kollegen die internationalen Standard-Behandlungsergebnisse sehr gut kennen. So ist es erforderlich, tagtäglich zu improvisieren, wodurch als Resultat auch in Tunis nunmehr Ganzkörperbestrahlungen für die Knochenmarktransplantation, interdisziplinäre Behandlungen der Weichteilsarkome und Telebrachytherapien von Kopf-Halstumoren möglich geworden sind. Die Behandlungsergebnisse werden selbstkritisch wissenschaftlich aufgearbeitet und publiziert, so dass die Weltgesundheitsorganisation in Anerkennung dieser Bemühungen das Institut Salah Azaiz zu einem regionalen Referenzzentrum für die Behandlung des Mammakarzinoms und des Kollumkarzinoms ernannt hat.
Die jetzt mit der Klinik für Strahlentherapie im Universitätsklinikum Kiel geplante Kooperation bezieht sich im Wesentlichen auf die Behandlung des Pterygiums, einer gutartigen Bindehautproliferation im vorderen Augenabschnitt. Wächst das Pterygium vom Limbus bis zur Horn-
hautmitte, kommt es konsekutiv zur Beeinträchtigung des Sehvermögens. In diesem Fall ist eine operative Resektion angezeigt, um die volle Sehfähigkeit wieder herzustellen. Da die alleinige chirurgische Therapie mit hohen Rezidivraten belastet ist, wird zur Verbesserung der Behandlungsergebnisse unter anderen Verfahren auch die adjuvante Strahlentherapie genutzt. Diese erfolgt als lokale Kontakt-Therapie mit einer Dosis von 30 Gy bei Einzeldosen von 5 Gy mit einer Strontium 90-Quelle, die in 1 mm Gewebetiefe dosiert wird. Solche Pterygien sind insbesondere in sonnenreichen, heißen und staubigen Weltregionen anzutreffen, wie Tunesien eine ist. Ein erster Besuch in Tunis hatte deshalb die Aufgabe, die eigenen Behandlungsergebnisse und Techniken vorzustellen.
Dieses wird in Tunesien recht pragmatisch aufgefasst. Nachdem ich mit einem Wagen aus meinem Urlaubshotel abgeholt wurde, ging die Fahrt zunächst in die Souks der Altstadt von Tunis. Dort wurde flugs ein Kalbskopf erworben, an dem die Behandlung unmittelbar demonstriert werden konnte. Im Universitätsklinikum von Tunis angekommen, eröffnete sich dann eine orientalische Welt. Für deutsche Verhältnisse große Menschenmassen, verschleierte Frauen, Beduinen in ihren bunten Kleidern und viele Kinder ergaben doch einen von Deutschland sehr abweichenden Eindruck. Dazwischen geduldig MTAs und Krankenschwestern sowie einige wenige Ärzte, die hier ihre Management-Fähigkeiten einbringen konnten.
Bei meinem Vortrag in der Bibliothek mit der ophthalmologischen Lehrstuhlinhaberin und dem Personal der Strahlentherapie zeigte sich dann aber schnell, dass hier eine Medizin gemacht wird, die sich um ein hohes Niveau bemüht. Alle gängigen Fachzeitschriften in der Bibliothek, differenzierte Behandlungskonzepte und genaue Kenntnis der Literaturlage ließen eine angeregte Diskussion zu. Im Anschluss musste nun am Kalbskopf demonstriert werden, wie denn so in Deutschland behandelt würde, ein zunächst ungewöhnlicher, aber doch sehr pragmatischer Weg, die eigenen Behandlungstechniken den Kollegen näher zu bringen. Wie in Deutschland wurde eine Vorstellung beim Generaldirektor, dem deutschen Verwaltungsdirektor entsprechend, nicht vergessen, dazu erfolgte eine Begehung sämtlicher Behandlungsräume sowie der Bettenstation. Als Resümee meines Besuches bleibt festzuhalten, dass auch mit eingeschränkten technischen Mitteln und unter sehr viel sparsameren Verhältnissen als hier gute Medizin gemacht werden kann, auch wenn sie auf Improvisation angewiesen ist. Der Kontakt mit Tunesien ist eine Bereicherung, haben wir es hier doch mit einem außerordentlich aufgeschlossenen Volk zu tun, das seine Wurzeln nicht allein in Arabien, sondern genauso in Rom, Byzanz, Italien, Frankreich und sogar Mitteleuropa sieht. Dabei ist es ausgesprochener Wunsch der tunesischen Ärzte, ihre einseitige Fixierung auf die vormalige Kolonialmacht Frankreich aufzugeben und vermehrt junge Ärzte zur Ausbildung nach Deutschland zu schicken. Die Klinik für Strahlentherapie in Kiel hat sich deshalb bereit erklärt, Ärzte aus Tunis sowohl durch kurzfristige Gastaufenthalte wie auch durch einjährige Weiterbildungen, etwa im Status eines AiPs, zu unterstützen. Gerade Deutschland ist in dieser Zusammenarbeit sehr gefordert und es kann nur allen anderen Arztgruppen wärmstens empfohlen werden, die ausgestreckte Hand aus Nordafrika zu ergreifen, ist das magrebinische Land doch nicht fernes Afrika, sondern unmittelbarer Nachbar der europäischen Union und damit auch von uns Deutschen selbst.

Dr. Jürgen Schultze, Klinik für Strahlentherapie (Radioonkologie), Arnold-Heller-Straße 9, 24105 Kiel


Schleswig-Holsteinisches
Ärzteblatt 11/ 2001
S. 23 - 25
http://www.aeksh.de/shae/200111/h01b023a.htm