SPIEGEL special 4/2004 - 28. September 2004
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http://www.spiegel.de/spiegelspecial/0,1518,320332,00.htmlArabische Welt
Die Mutter des Friedens
Von Rainer Traub
Der Austausch zwischen der arabischen und der europäischen Kultur soll mit dem diesjährigen Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse gefördert werden. Doch auf dem Weg zu diesem Ziel sind enorme Hindernisse zu überwinden.
Es war riskant, "Die arabische Welt" als Ehrengast ins Zentrum der bevorstehenden Buchmesse zu rücken: Kaum je standen der Idee und Praxis eines freien Dialogs der Kulturen größere Schwierigkeiten im Weg als heute - auf beiden Seiten. Gerade darum war die Entscheidung mehr als nur mutig. Sie war dringend notwendig.
Auf arabischer Seite beginnen die Probleme mit der Lage der Schriftsteller in den 22 eingeladenen Staaten der arabischen Liga - von Algerien über Ägypten und Oman bis Saudi-Arabien. Die Tyranneien in diesen Ländern sind graduell unterschiedlich ausgeprägt, doch wirkliche Freiheit gibt es in keinem von ihnen.
Niemand attackiert die arabischen Herrscher so zielsicher und leidenschaftlich wie die liberale arabische Opposition: "Sie dulden keine Kritik, und Kritik ist die Lunge der Freiheit", schreibt der in Deutschland lebende syrische Erzähler Rafik Schami. Er ging ins Exil, um dem "Mord an Geist und Seele" zu entkommen - wie zahllose Leidensgenossen: "Die arabischen Intellektuellen flüchten, werden mundtot gemacht, oder sie werden gekauft. Die Diktatoren versuchen - nicht ohne Erfolg - mit einem Heer gekaufter Dichter, Denker und Künstler die Herzen ihrer Bevölkerung zu erreichen."
Die Bedingungen der Buchproduktion nennt der Vizepräsident der arabischen Verlegerunion, Hafis Chalil al-Bis: "Autor und Verlag sind gezwungen, den Launen und Instruktionen von 22 arabischen Zensoren gerecht zu werden." Die arabischen Medien erlebten in den vergangenen 50 Jahren generell einen "immer stärker zunehmenden Niedergang". Das stellt Saad Eddin Ibrahim fest, ein Soziologieprofessor aus Kairo. Er beschreibt den grotesken "Comical Ali", Saddam Husseins einstigen Informationsminister ("Der Mann liquidierte Tausende amerikanische 'ungläubige Krieger' in ihren Panzern oder Flugzeugen, bevor sie Bagdad erreichten"), als typisches Produkt dieses Niedergangs.
Khalid Al-Maaly
Die arabische Welt - Zwischen Tradition und Moderne
Palmyra Verlag, Heidelberg;
ca. 270 Seiten;
19,90 Euro
Ibrahims Beitrag findet sich wie der von Schami im Sammelband "Die arabische Welt - Zwischen Tradition und Moderne". Das Buch vereint eine Fülle kritischer, profilierter Stimmen der arabischen Literatur und Kultur. Sie analysieren die wichtigsten politischen, kulturellen und religiösen Probleme der arabischen Welt. Ein Großteil der Autoren lebt in der europäischen Emigration - wie der 1979 aus dem Irak geflohene Herausgeber des Bandes, der in Köln ansässige Schriftsteller und Übersetzer Khalid Al-Maaly.
Neben dem elementaren Mangel an Demokratie ist der aggressive islamistische Fundamentalismus das aktuelle Hauptproblem. Der irakische Autor Najem Wali nennt in seinem Essay über "Die Nöte der arabischen Kultur" (siehe Seite 16) ein Schlüsseldatum für die Ausbreitung dieser geistigen Seuche mit ihrer fortschreitenden Erstickung aller liberalen Kulturtendenzen. Es ist der 5. Juni 1967, der Tag der Niederlage im Sechstagekrieg. Die Militärs rächten sich, so Walis Erklärung, mit einer scharfen innenpolitischen Reaktion für die Niederlage ihrer Männlichkeit auf dem Schlachtfeld: Ein massives patriarchalisches Rollback gegen die beginnende Emanzipation der Frauen und gegen alle Ansätze einer freieren, offenen Gesellschaft setzte ein. So wurde der Boden für die Islamisten bereitet.
Die hätten sich - unter dem Vorwand, wieder die Initiative im Kampf gegen Israel und bei der Befreiung Palästinas zu ergreifen - der politischen Bühne bemächtigt, sie vollständig "mit ihren paternalistisch-männlichen Vorstellungen geprägt" und die Frauen in die Häuser und unter den Schleier zurückgescheucht. Damit, so fährt Wali fort, begnügten sie sich nicht: "Sie mauerten auch das nationale Selbstgefühl in der Einsamkeit und Enge von uraltem Kulturgut ein. Es ist gefangen im geistigen Verlies fundamentalistischer Ideologien, die selbständiges Denken durch gedankenlose Übernahme ersetzen, Toleranz durch Fanatismus, Meinungsvielfalt durch Einheitsbrei und kritische Fragen durch blinde Zustimmung."
Arabische Satellitenprogramme, allen voran der Sender al-Dschasira, berieseln die Zuschauer nach Walis Zeugnis ununterbrochen mit reaktionärem Stumpfsinn und Hasstiraden auf den Westen. Die arabische Kultur, so fasst der irakische Schriftsteller seine schonungslose Diagnose zusammen, war noch nie in ihrer Geschichte "aus ihrer eigenen Mitte heraus derart bösartigen Angriffen ausgesetzt wie heute".
Die Nöte der Autoren hängen aber auch mit einem ganz anderen Problem zusammen. Schon lange bevor der islamistische Fundamentalismus sich in den Vordergrund drängte, war die westliche Neugier auf arabische Literatur und Kultur minimal. Von mehr als 125 000 belletristischen Titeln (darunter etwa 40 Prozent Übersetzungen), die gegenwärtig auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erhältlich sind, stammen weniger als 0,3 Prozent aus der arabischen Welt. Bis auf wenige Ausnahmen, zu denen die frankophone Algerierin Assia Djebar und - seit seinem Nobelpreis von 1988 - der Ägypter Nagib Machfus gehören, ist das literarische Desinteresse an der arabischen Welt überall in Europa ähnlich ausgeprägt.
Anstelle von Kenntnissen herrscht bis heute ein Stereotyp vom märchenhaften Orient vor, das vor 300 Jahren geprägt wurde. Beträchtlichen Anteil an der Karriere dieses Klischees hat das literarische Schicksal eines Werks der Weltliteratur: Die Geschichten aus "Tausendundeiner Nacht" erreichten das europäische Publikum Anfang des 18. Jahrhunderts durch eine französische Übersetzung des Pariser Diplomaten und Orientalisten Antoine Galland. Der fügte dem Inhalt der dreibändigen arabischen Handschrift nach eigenem Gutdünken zahlreiche Geschichten hinzu und schmückte seine Übersetzung mit allerlei pikanten Details aus. In dieser retuschierten Form befeuerten die Märchen die damals um sich greifende romantische Orientbegeisterung.
Paradoxerweise erschien die erste arabische Druckausgabe von "Tausendundeiner Nacht" erst, nachdem die französische Version die Phantasie der Europäer schon ein Jahrhundert lang erhitzt hatte - im Jahr 1814. Der Druckort war Kalkutta; in Arabien galt das erotisch freizügige Buch als anstößig. Es ist bis heute in vielen arabischen Staaten verboten. Das Märchenreich aber, das Galland präsentierte, wurde gerade im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung, die mit massenhafter wirtschaftlicher Entwurzelung und sozialer Verunsicherung einherging, zum idealen Fluchtpunkt der europäischen Phantasie: zu einem fremden Reich der Sinne, in der all jene Ausschweifungen imaginär ausgelebt werden konnten, die im damals noch kirchenstrengen Europa tabuisiert waren.
Verschleierte Frauen in Arabien: Instruktionen von 22 Zensoren
Verschleierte Frauen in Arabien: Instruktionen von 22 Zensoren
"Dieses Bild vom märchenhaften Orient ist zwar sympathisch, aber letztlich ein verheerender Mythos, der allzu viel zudeckt", sagt Lucien Leitess, Chef des Zürcher Unionsverlags (siehe Seite 20) und fügt hinzu: "Mir graut vor einer europäischen Blamage beim Austausch mit der arabischen Kultur anlässlich des diesjährigen Buchmessenschwerpunkts." Angesichts der tief verwurzelten Stereotype, klagt er, werde die Vielstimmigkeit der arabischen Welt nicht wahrgenommen. Europa identifiziere sie generell mit der islamischen Religion und benutze die Begriffe "islamisch" und "arabisch" wie Synonyme. Dabei seien unter den arabischen Autoren "Muslime, Christen, Juden und vor allem eine Mehrheit, die sich nicht über Religion definieren will. Sie schreiben in Arabisch, Französisch, in Berbersprachen, sogar in Englisch und Deutsch".
Selbst wenn es um die arabisch-islamische Kultur im engeren Sinn des Wortes geht, ist das übliche Gegensatzpaar "der Westen" und "der Orient" eine höchst fragwürdige ideologische Konstruktion. Ihre Entstehung und Funktion sind historisch erklärbar, doch der geschichtlichen Wirklichkeit entspricht sie nicht. Dieses Thema beleuchtet das Buch "Missverständnis Orient. Die islamische Kultur und der Westen". Autor Georges Corm, ehemaliger Finanzminister des Libanon und Autor zahlreicher Bücher, legt eine furiose Streitschrift gegen den "imaginären Bruch" zwischen "dem Westen" und "dem Orient" vor. Er bezieht sich auf die kritische Tradition des europäischen Denkens und argumentiert mit stupenden geistesgeschichtlichen Kenntnissen. So zerlegt er das Orient-Klischee mit den analytischen Mitteln jener Aufklärung, die auch er zu den größten Errungenschaften des Denkens rechnet.
"Der narzisstische Diskurs des Westens über sich selbst" kenne "seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der marxistischen Ideologien" keine Grenzen mehr. Er habe "den kritischen Diskurs", der "einst doch seine Stärke war, zunehmend marginalisiert", so Corm. "Wir sind allzu oft Gefangene einer binären Sicht des Daseins: Himmel und Hölle, das Gute und das Böse, Tradition und Moderne, Zivilisation und Barbarei, Orient und Okzident. Angesichts der Vielfalt und Unterschiedlichkeit in der Welt kann es nur verwundern, wie viele große Geister sich dazu hinreißen ließen, das Mannigfache ins Stereotyp zu pressen, in die binäre Logik des 'Ihr' und 'Wir'."
Georges Corm
Missverständnis Orient. Die Islamische Kultur und der Westen
Rotpunktverlag, Zürich;
180 Seiten;
18 Euro
Einen besonders brisanten Ausdruck hat diese binäre Logik, die in ähnlicher Weise dem manichäischen Denken des Fundamentalismus zu Grunde liegt, in einem der politisch einflussreichsten Bücher der Gegenwart gefunden: in Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen". Islamistisch motivierte Terroranschläge in aller Welt scheinen die polarisierende Titelthese erschreckend plausibel zu machen. Auch in Deutschland tragen nicht wenige so genannte Experten zur Verbreitung der Vorstellung bei, der Fundamentalismus sei die einzige authentische Form des Islam. Weil sie das Stereotyp vom ewigen Antagonismus zwischen dem Orient und dem Westen bedienen, kommen sie gut damit an. Arabische Oppositionelle und Vertreter eines aufgeklärten Islam dagegen, die den Dialog der Kulturen auch in den Medien fordern, fallen - so klagt der Iraker Najem Wali in seinem Essay - in Deutschland einem "systematischen Ausschluss" zum Opfer. So kommt das westliche Orient-Klischee auf fatale Weise dem fundamentalistischen Dogmatismus und dem Terrorismus entgegen.
An Schwierigkeiten fehlt es also nicht im Verhältnis zur arabischen Kultur. Hinzu kommt, dass es schon im Vorfeld heftige Auseinandersetzungen und Eifersüchteleien zwischen einzelnen arabischen Teilnehmerländern gab. Sie führten dazu, dass 5 der 22 eingeladenen Staaten aus der offiziellen Gemeinsamkeit der arabischen Liga ausscherten. Sie gaben dafür unterschiedliche Gründe an: Der zerstörte Irak hat dringendere Sorgen. Marokko und Algerien wollen lieber unabhängig, mit nationalen Pavillons auftreten, weil ihnen der ägyptische Einfluss zu groß ist und weil sie sich durch Nichteinladung verschiedener Literaten benachteiligt sehen. Kuweit und Libyen haben finanzielle Gründe für ihre Nichtteilnahme genannt.
"Man wollte die arabische Welt einladen und hat doch nur die Konflikte zwischen Arabern geschürt", kommentiert der marokkanische Erzähler Tahar Ben Jelloun in einem "Zeit"-Artikel zur Buchmesse. Aber sogar ein Skeptiker wie er kommt zu dem Schluss: "Und dennoch ist dies eine einmalige Chance für eine wenig bekannte, vielfältige Literatur."
Über 200 verschiedene Schriftsteller hat eine Jury, deren Unabhängigkeit die arabische Seite beteuert, eingeladen. Unter den Gästen sind Exilanten und Autoren, die im arabischen Raum leben, frankophone, anglophone und deutschsprachige Repräsentanten der arabischen Kultur, Muslime und Christen, Juden und religiös Indifferente.
Die israelische Schriftstellerin Batya Gur hat kürzlich einen SPIEGEL-special-Essay (2/2004) unter dem Titel "In der Falle" veröffentlicht. Er beginnt mit der Schilderung eines grausigen Bombenattentats in einem Jerusalemer Café, dem sie ganz knapp entging. Später im Text folgen zwei kurze, klare Sätze: "Die Verallgemeinerung ist die Mutter der Feindseligkeit. Differenzierung ist die Mutter des Friedens."
Treffender könnte man die Idee des Buchmessenschwerpunkts "Arabische Welt" wohl nicht ausdrücken.