Goethe im Sinkflug
Von Reinhard Mohr
Advantage Adenauer: Mit seiner unsäglichen Ranking-Show "Unsere Besten" bedient das ZDF das Bedürfnis der Deutschen nach selig-kollektiver Rückbesinnung. Geist, Gefühl, Geschichte und Geschmack bleiben dabei spektakulär auf der Strecke.
Im November 2003, besonders zwischen Volkstrauertag und Totensonntag, blickt Deutschland, jahreszeitlich durchaus angemessen, mit einiger Inbrunst zurück: "Das Wunder von Bern" und "Das Wunder von Lengede" waren die herausragenden Gemeinschaftserlebnisse der wiedervereinigten Kino- und Fernsehnation 14 Jahre nach dem Mauerfall. Und als wäre dies nicht genug der kollektiven Rückbesinnung, musste der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann noch rasch an die "jüdisch-bolschewistische" Weltverschwörung erinnern und den Leitspruch ausrufen: "Gerechtigkeit für Deutschland, Gerechtigkeit für Deutsche!"
Während nun die SPD auf das "Wunder von Bochum" hofft, hat das ZDF, der öffentlich-rechtliche History-Kanal mit angeschlossener Altenpflege, längst gehandelt: "Unsere Besten" heißt die TV-Kampagne für den offensichtlich wachsenden Bedarf an Nationalstolz, der allein mit Bohlen, Naddel und Becker wohl doch nicht zu decken ist.
Während wir Nachgeborenen in unserer glücklichen, unbeschwerten Kindheit am Rande des Sandkastens noch den VW Käfer von Papa gegen den Opel Kadett der Nachbarsfamilie antreten ließen und für unseren Besten (Ätsch, 42 PS!!!) bis zum Endsieg zu kämpfen bereit waren, rangen gestern Abend zwei Nationalhelden aus Fleisch und Blut um die Krone des "besten" Deutschen: Konrad Adenauer und Willy Brandt.
Beide hatten sich, ähnlich wie zuvor Johann Wolfgang von Goethe, Albert Einstein und Johann Sebastian Bach, in der Vorauswahl unter den 100 Besten erstaunlich souverän gegen Daniel Küblböck durchsetzen können. Zwar hauchte zu Beginn Yvonne Catterfield "Du kannst erkennen, wer die wahren Helden sind", doch es fiel am Ende verdammt schwer, sich zwischen Adenauer und Brandt zu entscheiden, obwohl deren Show-"Anwälte" Dr. Guido Knopp und Friedrich Nowottny ihrerseits ihr Bestes gaben.
Schon in der vergangenen Woche waren die Zuschauer hin- und hergerissen zwischen Otto von Bismarck und Karl Marx, und in der ersten Runde der letzten Zehn hatte Nina Ruge sich derart emphatisch für Albert Einstein ins Zeug gelegt und die Relativitätstheorie so megastark erklärt, dass Goethe echt ins Schwitzen kam und am liebsten gleich wieder nach Italien abgereist wäre.
Doch beim ZDF heißt die Parole: Hier geblieben! Keiner kommt davon. So kam es, dass nach Gregor Gysis TV-Plädoyer für Karl Marx der Erfinder der Mehrwerttheorie und des tendenziellen Falls der Profitrate Platz eins der Bestenliste erklommen hatte. Doch Marx hatte nicht mit Dr. Guido Knopp gerechnet, dem Zinedine Zidane der Geschichtsaufarbeitung: Virtuos legte er einen Slalomlauf durch die Wiederaufbaujahre der Bundesrepublik aufs Parkett, auf dass einem ganz schwindlig wurde. Danach war klar: Adenauer ist der Größte!
Dann aber Friedrich Nowottny, dessen diabolisch spöttisches Grinsen beim seligen "Bericht aus Bonn" (ARD) wirklich zum Besten gehört, was dieses Land nach 1945 hervorgebracht hat: Hatte sich schon beim Einspielfilm über Willy Brandt hier und da eine Träne gelöst, so war nach den geschliffenen Elogen des journalistischen Zeitzeugen klar wie Kloßbrühe: "Willy wählen!" Wen denn sonst?
Aber all dies wäre nichts ohne Steffen Seibert, den glatt gebügelten und windschnittig gestriegelten TV-Großwesir der Hochrechnungen, Statistiken und Prozentsäulchen. So erfahren wir: Adenauer 61 Prozent, Brandt 39 Prozent. Advantage Konrad! Beim "Menschlichkeitswert" (beim ZDF nennen sie es wirklich so!) aber schlägt der tote Sozialdemokrat den toten Christdemokraten mit 8,9 : 8,2 ! Der Wahnsinn.
Gleichwohl verdrängt Adenauer Karl Marx vom 1. Platz. Alles wird gut.
Allein, Goethe befindet sich "im Sinkflug", wie Seibert alert kommentiert, "auch die Geschwister Scholl". Was ist da passiert? Aber Gott sei Dank, "Luther hält sich, wahrscheinlich wegen des Films".
Doch wo bleibt Gutenberg? Der Mann wird wissen, warum er sich auf den letzten Tabellenplatz zurückgezogen hat.
Denn "Unsere Besten" gehört zweifellos zum Schlimmsten und Verlogensten, was derzeit auf deutschen Bildschirmen zu sehen ist. Die Sendung ist schlimmer und verlogener als alle "Sexy Night Clips" zusammen, schlimmer als jede Talkshow und verlogener als alle billigen Vorabendserien, die immerhin klar umrissene Zuschauerbedürfnisse befriedigen und mit Bildung oder Aufklärung erkennbar rein gar nichts zu tun haben wollen.
Das, was der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard eine "Widerwärtigkeit" genannt hätte, besteht hier in der ebenso besinnungslosen wie skrupellosen, in der ebenso steindummen wie absolut unverschämten Vergleichgültigung, Verramschung und Verpanschung all dessen, was mit Geist, Kritik, Intellekt, mit Geschichte, Gefühl und Geschmack zu tun hat. Eine "systematische Spekulation der Fernsehsender auf die Dummheit des Zuschauers" nannte Jens Jessen dieses unsägliche, lächerliche Ranking-Spektakel in der "Zeit", ein "Weltverdummungsprojekt", das von einer "Fernsehsekte" aus "Tele-Cyborgs" verbrochen werde.
Das Schlimmste aber: Steffen Seibert merkt nicht einmal, dass er in Grund und Boden versinken müsste, während er todernst vermeldet: "Goethe im Sinkflug". Johannes B. Kerner, die Allzweckwaffe des ZDF, hat es da leichter. Am Schluss der Sendung konnte er auf sich selbst verweisen, auf die nachfolgende Johannes B. Kerner Show. Stargast: Michael Moore. Der würde, hundert Pro, auch Konrad Adenauer von Platz eins vertreiben, wäre er nicht, dummerweise, amerikanischer Staatsbürger. Aber wer weiß? Vielleicht stellt der neue Liebling der Deutschen ja einen Einbürgerungsantrag.
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,274599,00.htmlGrüße!