Im Oktober 2001 schickte mich mein Mann für eine Woche in Urlaub. Im Reisebüro fragte ich nach Last-Minute Angeboten und ich bekam viele Vorschläge für Tunesien auf den Tisch gelegt. Da mich der Orient schon immer fasziniert hatte und ich Ruhe suchte entschied ich mich für das Zarzis-Hotel in Zarzis-Soujihel.
Ich landete am Morgen in Djerba und fuhr mit dem Bus ca. 1 Stunde in "mein" Hotel. Schon auf der Fahrt merkte ich, dass etwas mit mir passierte. In mir machte sich eine große Ruhe breit und ich hatte das Gefühl nach Hause gekommen zu sein. Diese kleinen weißen Häuser mit ihren Kuppeln und blauen Fenstern und Türen gefielen mir sehr und ich malte mir aus wie wohl mein Haus aussehen würde wenn ich hier eins zu bauen hätte.
Das Zarzis-Hotel entpuppte sich als das älteste Hotel in Zarzis aber wohl auch als das mit der meisten Atmospähre. Ich war der einzige Gast den der Bus hier absetzte und auch der letzte Gast auf der Route.
Das ganze Hotel ist im maurischen Stil erbaut. Die Hotelhalle ist ein großer Kuppelbau aus roten Backsteinen und das gibt ihr etwas sehr familäres.
Gleich nach meiner Ankunft machte ich einen Ausflug an den Strand und wie es sich gehört wurde ich auch gleich von einem jungen Tunesier angesprochen, ob ich nicht reiten wolle. Am Nachmittag habe ich mich erneut mit ihm getroffen und mir die Pferde angeschaut. Für den nächsten Tag wurde dann gleich ein Ausritt festgemacht und für den übernächsten Tag eine Kutschfahrt auf den Berbermarkt nach Zarzis und auch die Anzahlung wurde geleistet. Der Ausritt war sehr schön und so sah ich gespannt der Kutschfahrt entgegen.
Mittwoch Morgen pünktlich um 9:00 Uhr fand ich mich also zusammen mit 4 anderen Touristen an den Kutschen ein. Die 4 anderen Touristen erzählten mir sie hätten zusammen 50 Dinar für diesen Ausflug bezahlt. Sie saßen in der großen Kutsche und ich fuhr zusammen mit dem jungen Tunesier vom Strand auf einer kleinen zweisitzigen Kutsche. Die beiden Einheimischen führten uns über den Markt und halfen uns etwas beim Handeln. Der Berbermarkt in Zarzis ist groß und man kann fast alles kaufen: Gemüse, Schafe, Fleisch, Seife, Kleidung, Besen, Gewürze,.....
Mein Chauffeur machte auf dem Rückweg noch einen Umweg in eine Teppichknüpferei. Es gab den obligatorischen Tee und ich bekam viele verschiedene Teppiche in allen Größen, Farben und Formen gezeigt. Nachdem ich aber immer wieder zu verstehen gab, daß ich keinen Teppich kaufen wolle wurde schnell alles wieder weggeräumt und der Heimweg wurde angetreten. Wieder am Hotel angekommen, sagte mir der junge Tunesier, der Preis für diesen Ausflug sei 35 Dinar. Davon hätte ich ja schon 5 Dinar Anzahlung geleistet, also bekäme er noch 30 Dinar. Nachdem ich von den anderen Touristen wußte was sie bezahlt hatten war ich damit natürlich überhaupt nicht einverstanden und war bereit ihm 15 Dinar zu geben. Er regte sich ganz furchtbar auf, sagte davon könne er ja nicht einmal das Futter für das Pferd bezahlen und er hätte ja auch noch einen Umweg über die Teppichknüpferei gemacht und überhaupt bevor er sich mit so wenig zufieden gebe wolle er lieber gar kein Geld. Ich legte also meine 15 Dinar auf den Kutschbock und ging zurück ins Hotel. Seitdem hatte ich nie wieder Diskussionen im Ort über das Geld, denn anscheinend hatte es sich rumgesprochen dass man mich nicht über den Tisch ziehen kann.

Die nächsten Tage verliefen ohne Zwischenfälle und ich genoß meinen Urlaub in vollen Zügen. Nette Leute hatte ich auch schon kennengelernt und an die Tunesier am Strand die einen ständig ansprachen hatte ich mich auch gewöhnt und gelernt einfach nicht zu reagieren wenn ich keine Lust hatte.
Eines Abends kam ich vom Essen zurück in mein Zimmer und ging direkt ins Badezimmer. Mein Zimmer lag im Erdgeschoß und die Terrassentür war geschlossen. Im Badezimmer war der Toilettendeckel hochgeklappt, was mich wunderte, denn eine meiner Eigenheiten ist es, dass ich das nicht mag. Ich schaute mir also die Toilette genauer an und was sah ich da: Da hatte doch jemand tatsächlich seinen Haufen in meiner Toilette hinterlassen. Da wurde es mir doch etwas mulmig zumute, denn dieser jemand mußte ja irgendwie in mein Zimmer gekommen sein. Ich ging also zur Rezeption und schilderte mein Problem. Sofort wurde der Zimmerboy geschickt, um die Hinterlassenschaft zu beseitigen, was sich als nicht ganz einfach erwies, da der/die Unbekannte vorher ordentlich Toilettenpapier in die Toilette gestopft hatte. Der Hoteldirektor sorgte sofort dafür, daß ich ein neues Zimmer im 1. Stock bekam und der Zimmerboy packte meine Sachen und brachte sie in mein neues Zimmer, daß jetzt sogar mit Meerblick war. Am gleichen Abend erzählte ich meinen neuen Freunden von dem Vorfall, darunter einem Tunesier der am Strand die Liegen vermietete. Gleich am nächsten Morgen bekam ich erzählt, daß der Übeltäter wohl einer der Zimmerboys war und dieser nun bis zu meiner Abreise beurlaubt wurde. Das tunesische Informationssystem klappt hervorragend wie man an solchen Vorfällen sehen kann, offiziell sagte man mir allerdings man wisse nicht wer es gewesen sei.

Ein paar Tage später lernte ich einen netten jungen, schüchternen Tunesier kennen und verliebte mich Hals über Kopf. Wieder zu Hause telefonierten wir alle 2-3 Tage und im Januar war ich wieder in Zarzis. Mein Freund stellte mich seiner ganzen Familie vor und nahm mich überall mit hin. Ich saß mit ihm im Männercafé und spielte Rommé, wurde zum Essen von der Tante eingeladen und angelte mit ihm am Strand. Was ich schon bei meinem ersten Besuch geahnt hatte wurde immer mehr zu einem sicheren Gefühl: Das ist das Land in dem ich irgendwann leben möchte und in dem ich mich zu Hause fühle. Von der Familie wurde ich sofort als neues Familienmitglied aufgenommen und ich durfte jeden fotographieren, was normalerweise undenkbar ist. Schweren Herzens flog ich nach einer Woche wieder nach Hause und war hier in Deutschland kaum in der Lage ein normales Leben zu führen. Mein Herz und meine Gedanken weilten ständig in Tunesien und mir wurde bewußt in welch einem Überfluss wir hier leben und mit wieviel unnützen Dingen wir uns eigentlich das Leben erschweren.
Es kam wie es kommen mußte, 4 Wochen später war ich wieder in Zarzis.

Diesmal wohnte ich nicht mehr im Hotel, dass mir doch noch ein wenig Luxus als Sicherheit bieten konnte. Ich lebte in der Familie und half im Haushalt, saß abends mit den Schwestern vor dem Fernseher oder spielte mit ihnen Gesellschaftsspiele, sofern ich dazu Lust hatte, bekam von den Schwestern die Füße und eine Hand mit Henna bemalt oder ich ging mit meinem Freund weg. Das Leben in dieser Form gefällt mir sehr. Im Gegensatz zu unserer Familie haben die Familienmitglieder Zeit füreinander. Natürlich gibt es auch hier Streit, schließlich sind wir Menschen, aber die Freude und das Lachen überwiegen doch bei weitem. Das Leben orientiert sich nicht daran, was man hat, sondern was man aus dem macht was man hat, ganz gleich ob das viel oder wenig ist.

Ich hatte das Glück das Opferfest (Laid) erleben zu dürfen. Ich hatte schon einiges davon gehört, hatte aber keine Ahnung was wirklich geschehen würde.
Es war der 22. Februar 2002. Schon früh um 8:00 Uhr war viel Unruhe im Haus und ich hörte viele Stimmen die nicht zur unmittelbaren Familie gehörten. Neugierig geworden stand ich auf und sah viele Freunde und entferntere Verwandte vor dem Haus. Die Hammel waren auch schon aus dem Stall geholt worden, einer war sogar mit bunten Bändern geschmückt.
Ein kleines Gefäß mit Holzkohle, daß sonst zum Heizen im Wohnraum benutzt wurde war schon angezündet und es wurden Kräuter und Weihrauch darauf gelegt. Ein Eimer mit Wasser stand auch da und ein Loch im Boden wurde ausgehoben. Ich frühstückte erst einmal mein obligatorisches Weißbrot mit Feigenmarmelade. Direkt neben mir ging man nun daran die Hammel zu schächten.
Zuerst bekam der Hammel etwas Wasser zu trinken und dann wurde ein Gebet gesprochen und etwas Rauch um den Hammel geschwenkt. Dann nahmen zwei Männer den Hammel und legten ihn so über das Erdloch, daß der Hals direkt über dem Loch war. Ein Mann der wohl nur deswegen kam schnitt mit einem schnellen Schnitt die Kehle durch und das Blut floss direkt in das Loch. Mittlerweile war mir der Appetit vergangen und ich ließ mein Frühstück liegen. Auf diese Weise mußten vier Hammel ihr Leben lassen für vier Familien.
Nachdem die Hammel tot waren legte man sie auf eine große Plastikplane auf die Terrasse und die Arbeit konnte beginnen. Die Überreste des Schächtens waren nach dem Auffüllen des Erdlochs und einigen Besenstrichen beseitigt. Nun pustete man den Hammel auf, damit er ganz prall war und fing dann an das Fell abzuziehen. Das war eine schwere Arbeit. Der Kopf und die Unterläufe blieben am Fell. Dazu mussten dem Hammel allerdings die Beine und das Genick gebrochen werden, wobei ein ziemlich unangenehmes Geräusch zu hören war. Dann wurde der Hammel an einem Bein aufgehängt und aufgeschnitten. Der Darm und der Magen wurde entnommen und gesäubert, denn das sollte es ja als Mittagessen geben. Ich war froh, daß sich alles an der frischen Luft abspielte, denn ich weiß nicht, ob mein Kreislauf das sonst alles überstanden hätte ohne Probleme. Der Hammel wurde komplett ausgenommen und blieb dann bis zum nächsten Tag hängen.
Am Mittag gab es Couscous mit Gemüse und gefülltem Hammelmagen. Die vier Familien hatten alle ihr eigenes Essen zubereitet, aber man traf sich im Haus der gemeinsamen Eltern bzw. Großeltern um zu essen und es spielte keine Rolle wer welche Schüssel mit Essen gefüllt hatte. Das Couscous mit dem Gemüse schmeckte vorzüglich und ich hatte vorher schon einmal gefüllten Hammelmagen gegessen ohne zu wissen was es war, aber diesmal nach den Ereignissen am Morgen brachte ich es nicht über mich mehr als ein paar Löffel Couscous zu essen.
Im ganzen Ort wünschte man sich ein glückliches Laid und die Geschäfte waren alle geschlossen. Überall herrschte eine fröhliche, gelassene Stimmung die ansteckend wirkte.
Die Frauen des Hauses waren den Nachmittag über damit beschäftigt den Kopf des Hammels über dem offenen Feuer von den Haaren zu befreien und zu zerlegen. Abends gab es dann Hammelkopf mit etwas Soße und Brot. Welch ein Glück war ich nicht die einzige in der Familie die sich nicht überwinden konnte das zu essen und so gab es noch PommesFrites und tunesischen Salat. Mein Magen war nicht besonders gut auf Essen zu sprechen nach den Erlebnissen des Tages und so war ich relativ schnell satt.
Am nächsten Morgen wurde der Hammel nun in Einzelteile zerlegt und die ganze Familie beteiligte sich an dieser Arbeit. Die Schwestern liefen von einer Tante zur anderen und überall versuchte man die besten Fleischstücke zu bekommen nur um gleich danach in die Küche zu laufen und sich das Stück Fleisch in Olivenöl anzubraten und dann genüßlich zu verspeisen. Wiedereinmal saß ich währenddessen beim Frühstück und man konnte es so gar nicht verstehen, daß ich direkt nach meinem Weißbrot mit Feigenmarmelade nicht in der Lage war Hammelfleisch zu essen. Nachdem ich so oft das Fleisch verweigert hatte gab ich mir beim Mittagessen Mühe so viel Fleisch wie möglich zu essen.
Ein Teil des Fleischs wurde direkt verarbeitet, teilweise wurde mit der Hand der Fleischwolf gedreht um Hackfleisch zu machen. Andere Teile des Fleischs wurden eingefroren oder gewürzt und dann zum trocknen aufgehängt. In den nächsten Tagen sah man überall im Ort Fleischstreifen auf der Wäscheleine hängen, ein eigenartiger Anblick.

Viel zu schnell ging auch dieser "Urlaub" vorbei. Am Flughafen in Djerba war ich auf einmal umgeben von deutsch sprechenden Menschen, was ich als äußerst unangenehm empfand und mir wurde klar, daß ich irgendwie in letzter Zeit auf tunesisch gedacht und geträumt hatte ohne mir dessen bewußt zu sein und ohne zu wissen wie das ging wo ich doch nur ein paar wenige Wörter auf tunesisch beherrschte. Allerdings hatte ich schon vorher festgestellt, daß ich teileweise kurze Gespräche verstand und sinngemäß übersetzen konnte ohne der Sprache mächtig zu sein.

Hier im kalten Deutschland leide ich nun unter Heimweh und sehne mich nach meiner tunesischen Familie zurück und nach dem Leben dort. Es klingt verrückt, man lebt hier in Deutschland mehr oder weniger im Luxus, besitzt ein Haus, eine Waschmaschine, Spülmaschine, Trockner, Bügeleisen, viele Möbel, etc. und man sehnt sich nach einem Ort in dem die Wäsche noch mit der Hand in einer großen Schüssel gewaschen wird und man auf Matratzen auf dem Boden schläft. An diesem Ort an dem es angeblich so wenig Komfort gibt ist man glücklicher als in seinem bequemen, komfortablen Haus - kann das sein? Ja es kann sein. Ich empfinde dieses Gefühl jeden Tag und mir wird immer mehr bewußt wie wenig wir eigentlich brauchen um glücklich zu sein. Viel wichtiger als all diese Annehmlichkeiten ist das Gefühl gebraucht und geliebt zu werden - einfach das menschliche.
Ich bin in diesem Ort nicht mehr eine Touristin, sondern werde als Einheimische behandelt und das erfüllt mich mit Stolz. Ich bin Teil eines Lebens dass mir lebenswert erscheint. Es ist durchaus möglich, dass ich irgendwann meine Zelte in Deutschland abbreche und in Tunesien lebe, allerdings muß ich auch an meine Kinder denken. Das Leben in Tunesien würde ihnen sicherlich gefallen, aber die Umstellung wäre hart für sie und sie sollen auch die Möglichkeiten die sie Deutschland haben bekommen (Schule, Studium, etc). Allerdings bin ich auch da in einem Zwiespalt, denn die menschlichen Werte die sie dort lernen können würden ihnen auch guttun.

Mein erster Urlaub in Zarzis hat mein Leben also komplett umgekrempelt und mir viele Denkanstöße geliefert. Eine Freundin von mir hat es als Virus bezeichnet der manche Menschen befällt wenn sie das erste mal nach Tunesien kommen. Bei ihr hält der Virus schon seit 20 Jahren an und es ist keine Besserung in Sicht. Ich empfinde es als durchaus angenehmen Virus, wenn nicht immer die harte Zeit in Deutschland zu überbrücken wäre bis man endlich wieder im Flugzeug nach Tunesien sitzt.

Anja