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Das Schleierverbot
Seit sechs Jahren ist der Schleier in der Türkei verboten
Die Folgen

Ganze sechs Jahre ist es her, als der Schleier in der Türkei verboten wurde. In dieser Zeit gab es genauso viele dramatische Ereignisse wie verschleierte Frauen. Wir alle haben einige von ihnen gesehen, einige haben wir gar nicht gesehen, einige haben wir gesehen und dann wieder vergessen, an einige wollten wir uns gar nicht mehr erinnern… Einige von ihnen legten den Schleier ab, andere kämpften dafür, ihn nicht ablegen zu müssen…Wie sehr es auch ihre eigene Entscheidung war, so sehr wurde diese durch ihre Familien und der Dschama’ah (Gemeinschaft), der sie angehörten beeinflusst…
Einige von denen, die den Schleier nicht abgelegt hatten, schimpften mit jenen Frauen, die es getan hatten. Doch jede von ihnen befand sich in einer komplizierten Situation. Einige konnten das Studium im Ausland zu Ende bringen, andere konnten sich so etwas nicht leisten.

Einige von ihnen dachten, durch diesen Kampf ihre Persönlichkeit gefunden zu haben, andere wiederum glaubten, diese dadurch verloren zu haben… Der Grund dafür war, dass ihre Familien und das Umfeld ihnen den Rücken gekehrt hatten… Es zeigte sich, dass einige von ihnen falsche Ehen geschlossen hatten, und anstatt erwarteter Hilfe und Unterstützung, bekamen sie Enttäuschung, denn es wurde von jeder verlangt, eine andere Frau zu sein! Einige Gläubige machten sich Sorgen, weil sich das Selbstbewusstsein der Frauen bezüglich des Anspruchs auf ihre Rechte „zu sehr (!)“ entwickelt hatte. Sie nannten sie „viel zu frei (!)“ „viel zu aktiv(!)“ Einige der jungen Frauen dachten schon, sie würden deswegen nicht heiraten können… Um sich vor dem Schleierverbot zu retten, heirateten einige sofort, doch diese Familien waren bald zerstört…

Andere, obwohl sie einen Ehemann gefunden hatten, konnten ihre Trauer um das abgebrochene Studium nicht überwinden… Wieder andere hatten Hilfe eines Psychologen in Anspruch nehmen müssen, doch vergeblich… In all diesen Geschichten hatte jede von uns in jeder Szene mindestens eine kleine Rolle, denn wir wurden alle mehr oder weniger verletzt…

Wenn eine Kugel in den menschlichen Körper eindringt, so verursacht sie doch den meisten Schaden beim Verlassen des Körpers, sie zerstört ihn ganz… Das menschliche Gehirn nimmt dies nicht sofort wahr… Erst später fängt das Blut zu rinnen an …

Hadzera Yildiz, Hatidza Kanlitas, Selda Karakusoglu sind nur drei von den vielen Zeuginnen dieser Zerstörung... Ich wollte nur daran erinnern, dass wir immer noch bluten. Das, was die drei jungen Frauen erzählen werden, ist nur ein kleiner Bruchteil von dem, was sie erzählen könnten… Im nachfolgenden Gespräch mit ihnen sind die Fragen herausgenommen worden, damit Sie ganz allein mit ihnen bleiben können…

Hadzera Yildiz
Was alles erlebten wir nicht in dieser Zeit! Eine Freundin von uns, die im letzten Jahr des Medizinstudiums in Istanbul-Chapa war, bekam Hausarrest von ihren Eltern, weil sie sich geweigert hatte, den Schleier abzulegen! Ihr Vater erlaubte ihr nicht, während des Ramadan zu fasten, weil sie auf ihn nicht gehört hatte! Sie sperrten ihre Tür ab. Weil sie abends Bücher las, nahmen sie ihr die Lampe aus dem Zimmer weg. Sie war mit einem Studienkollegen verlobt, doch sie trennten sie. Nach sechs Monaten erlaubte ihr der Vater nach und nach, aus dem Haus zu gehen. Wir empfahlen ihr, ins Ausland studieren zu gehen, doch ihr Vater wollte ihr auch das nicht erlauben.

Wir hatten eine Freundin aus der Stadt Samsun (im Norden der Türkei). Sie studierte Physik in Istanbul. Sie war die einzige Tochter in einer wohlhabenden Familie. Die Familie stellte sie unter Hausarrest. Sie durfte nicht einmal telefonieren. Sie wurde ständig von einem Dienstboten beobachtet, der die Familie über alles, was sie machte unterrichtete. Sie konnte nicht aus dem Haus gehen. Alle ihre Schleier warfen sie weg! Eines Abends konnte sie eine Möglichkeit zum Telefonieren nutzen und rief uns an. Sie erzählte uns alles und sagte „holt mich hier weg“, und legte wieder auf. Wir fuhren nach Samsun. Wir warteten vor ihrem Haus auf ein Zeichen, drei Stunden lang. In der Nacht öffnete sich die Tür, und die junge Frau kam raus. Sie erzählte, dass sie aufgestanden war, um in das Badezimmer zu gehen und als der Dienstbote in der Küche war, schlich sie sich aus dem Haus. Wir stiegen sofort ins Auto und fuhren weg. Später sahen wir in der Zeitung, dass ihre Familie eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Schließlich fand uns ihre Familie. Wir sagten zu ihnen: „Genau, Ihre Tochter ist bei uns und sie möchte mit Ihnen nicht mehr leben. Sie haben nichts gemacht, außer ihre Psyche zerstört. Wir bitten Sie, wenn sich Ihre Tochter entschließt zu studieren, dann soll sie studieren. Sie sind wohlhabend, erlauben Sie ihr, dort zu studieren, wo sie ihre Ruhe haben kann. Glauben Sie, dass sie das vergessen kann, was Sie ihr angetan haben? Warum säen sie Rache in ihrem Herzen?“ Doch sie führten sie mit Gewalt weg. Natürlich hat sie den Schleier nicht abgelegt, studieren konnte sie allerdings auch nicht.

Jetzt zu denen, die ihr Studium beenden konnten, weil sie den Schleier abgelegt hatten: Mit einigen Freundinnen sitzen wir zusammen und unterhalten uns. Jemand fragt: „Frau Doktor, wo haben Sie Ihr Studium abgeschlossen?“ Ich antworte: „Bis zum letzten Studienjahr war ich in Istanbul-Chapa, doch diplomiert habe ich in Ungarn.“ Der anderen wird dieselbe Frage gestellt und sie antwortet: „Ich habe in Istanbul-Chapa diplomiert.“ Dabei ändert sich so sehr ihre Stimmung, sie schämt sich. Die Trauer wird sie niemals verlassen. Die Weinkrämpfe, die sie durchlitten hatte, als sie den Schleier ablegte. Der Wunsch diesen Tag zu vergessen. In jeder Nacht setzt sie den Schleier wieder auf und schläft so!? Ich sage zu ihr: „In der Nacht sieht dich doch keiner!“ Sie antwortet: „Irgendwo muss ich mich doch dafür rächen, dass ich den Schleier dort ablegen muss!?“

Eine Freundin von uns studierte Medizin in Istanbul-Chapa. Sie kämpfte immer dafür die erste zu sein und hatte nie eine Note unter 9,8 (die beste Note an türkischen Universitäten ist 10, A.d.Ü.) Sie musste nur noch einige praktische Stunden ablegen, um das Studium abzuschließen. Wegen des Drucks seitens ihrer Familie und wegen des großen Wunsches, die Beste auf der Universität zu sein, legte sie den Schleier ab. Doch von diesem Tag an, bekam sie nicht eine einzige Note über 6,0. Ich sagte zu ihr: „Du bist doch sehr intelligent. Wenn du schon den Schleier aufgegeben hast, dann sollst du mindestens die erste sein.“ Weinend erklärte mir die Schwester: „Wenn ich dort ohne den Schleier hineingehe, denke ich ununterbrochen an mein Haar, das jetzt frei zur Schau steht, und kann mich auf Prüfungen nicht konzentrieren. Ich kann dem, was der Professor sagt, nicht folgen.“ Sie machte ihr Diplom, doch die erste konnte sie nicht sein. Später verschleierte sie sich wieder. Doch letztendlich ist sie an beiden Fronten gescheitert. Früher war sie eine Idealistin, hatte starke Persönlichkeit, was sie sagte, dass machte sie auch, sogar den Professoren widersetzte sie sich. Als sie den Schleier abgelegt hatte, verlor sie das Selbstbewusstsein. Die Prüfungen für eine Spezialisierung schaffte sie auch nicht, obwohl diese Prüfungen für eine Verschleierte sehr einfach waren, denn die Professoren stellten diesen Studentinnen während des Studiums die schwierigsten Fragen, so mussten sie viel mehr als alle anderen lernen, und waren deshalb für diese Prüfungen gut vorbereitet. Vor dem Schleierverbot gab es keine verschleierte Frau, die diese Prüfungen für eine Spezialisierung nicht geschafft hätte! Doch von denen, die den Schleier abgelegt und weiterstudiert hatten, schaffte nur ein sehr kleiner Anteil die Prüfungen.

Egal wo wir hingingen, mindestens eine Person sagte zu uns: „Ihr hättet zu Hause bleiben sollen. Hattet ihr nichts anderes zu tun, als zu studieren und um den Schleier zu kämpfen?“ Das verletzte uns am meisten. Unsere Schwestern setzten ihr Studium an verschiedenen Universitäten in Europa, aber auch in Amerika, Kanada, Aserbaidschan und auf Zypern fort. Zurzeit gibt es 600 von uns Verschleierten an der Universität in Wien. Wie wir von ihren Professoren erfahren haben, haben diese Studentinnen den Leistungsdurchschnitt der Studierenden dieser Universität angehoben.

Diese Zeit hat den verschleierten Musliminnen auch etwas Gutes gebracht: bessere Bedingungen für das Studium und das Leben. Früher war es nicht einmal denkbar, dass eine Verschleierte in einer anderen Stadt studiert, und jetzt haben sie die Möglichkeit in verschiedenen Ländern zu studieren. Jetzt wird das ganze offener betrachtet, eine Denkrevolution fand statt. Die jungen Frauen haben sich selbst, die Türkei und die ganze Welt wieder gefunden. Diese Entwicklung war das Positive an dieser Zeit.

Hatidza Kanlitas
Als das Verbot in Kraft trat, wurde folgende Aufschrift an die Tür gehängt „Geschlossene und offene Räume dürfen nur im Einklang mit den Kleidungsvorschriften betreten werden“. Eine Gruppe unserer Kolleginnen sagte sofort: „Gegen dieses Verbot können wir nicht kämpfen, lasst uns Perücken kaufen!“ Zu dem Zeitpunkt wusste man noch nicht, welche Strafe diejenige erwartet, die sich diesen Vorschriften „widersetzt“. Wir dachten, dass dieses Verbot vielleicht doch nicht praktiziert werden würde. Unsere Kolleginnen sprachen darüber, in welcher Farbe sie die Perücken kaufen sollten. Sie entschieden sich, weiße Perücken zu kaufen, damit es möglichst unattraktiv aussieht. Doch später sahen wir sie mit Perücken, die genau zu ihren Gesichtern passten. Wir fingen an, uns in der Schule vor den Professoren zu verstecken. Wenn man von einem Vorsitzenden ertappt wurde, wurde man sofort aus der Praxis ausgeschlossen. Eines Tages floh ich vor einer Professorin auf die Toilette, damit sie mich nicht mit einem Schleier erwischt. Sie folgte mir auf die Toilette. Ich fühlte mich noch nie so schlecht in meinem Leben wie damals. Du hast einfach Angst… Sie werden dich erwischen und dich dann hinauswerfen. Die Professorin klopfte an die Tür und ich sagte zu ihr „besetzt“. Sie ging hinaus und dann weg, und nie wieder ließ Allah (s.w.t.) solche Angst in mir zu. Alle möglichen Arbeiten machten diese Schwestern, sie arbeiteten sogar für 120-150 Millionen türkische Lira, während alle anderen für 300 Millionen Lira arbeiteten. Obwohl die Besitzer dieser Geschäfte Gläubige waren.

Selda Karakusoglu
Ich entschied mich weder gegen den Schleier noch für die Perücke. Das hier ist meine Persönlichkeit! Diejenigen, die nicht so dachten wie ich, machten ihr Diplom. Sie stehen auf sicheren Füßen, doch ihre Psyche ist zerstört. Es geschah, dass einige Familien in die Schulen kamen und sie prügelten, damit sie den Schleier ablegten. Es war unmöglich, einem psychischen Zusammenbruch zu entgehen, für diejenigen, die ihren Schleier ablegten gleichermaßen wie für diejenigen, die es nicht taten…

Wegen des Schleiers wurde meine Familie zerstört. Während einige Familien ihre Töchter bei ihrer Entscheidung für den Schleier unterstützten, verhielt sich meine Familie mir gegenüber sehr negativ, mit jedem Tag wurde es immer schlimmer. Wenn Gäste zu uns kamen, wurde dieses Thema sofort angesprochen, mich fragte keiner nach meiner Meinung, mein Vater zählte mir nur alle Drohungen auf. Die Entscheidung, die Schule zu verlassen, fiel mir sehr schwer. Ich konnte meiner Familie nicht sagen, welche Strafen ich bekommen hatte, ich konnte nicht nach Hause gehen, wenn ich nicht zur Schule ging. Jeden Tag begleitete ich meine Freundinnen zur Schule und wartete dann alleine auf ihre Rückkehr. Als wenn diese Schule nicht meine Schule gewesen wäre… Als wir uns wieder sahen, fragte ich sie sofort, wie es in der Schule war, in der Hoffnung ich würde eines Tages wieder in die Schule gehen können. Ich schrieb immer alles von ihnen ab. Die Zeit verging und ich wurde immer mehr erschöpft. Jedes mal, wenn im Fernsehen die Rede von Verschleierten war, die dasselbe Schicksal hatten wie ich, nannte mein Vater sie Terroristinnen, und wenn ich sie verteidigte, gab es einen Streit im Haus. Als meine Schwester aus der Schule ausgeschlossen wurde, stieg zu Hause die Spannung an. Mein Vater nahm auch die kleinsten Dinge zum Anlass für einen Streit. Eines Tages sagte ich zu ihm: „Finde dich endlich damit ab, dass wir ohne den Schleier nicht lernen wollen!“ Ab dem Zeitpunkt verbot er uns allen, in die Schule zu gehen. Die jüngeren Schwestern durften das Schuljahr noch zu Ende machen, ich durfte ab dem nächsten Tag nicht mehr zum Englischkurs. Tränen, die meine Schwestern geweint hatten, kommen mir nicht mehr aus dem Kopf. Eine Zeit lang verdiente ich selber, indem ich Englischstunden gab und in einer Firma arbeitete. Meine Familie gab mir nicht eine Lira. Der Zorn meines Vaters hat immer noch nicht nachgelassen. Ich weiß nicht, wie lange ein Mensch den Zorn in sich tragen kann, doch mein Vater tut nach so vielen Jahren immer noch so, als ob es uns gar nicht geben würde.

Übersetzt aus dem Bosnischen von Gorana Selmanovic

Quelle: http://www.alschuruq.at