20.11.2003:
Kommentar: "Angriff auf ein Symbol"
Die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus braucht auch die türkischen Muslime. Von Abu Bakr Rieger

Wer einmal Istanbul besucht hat und einen Blick von der blauen Moschee auf den Bosporus geworfen hat, wird diese Stadt wohl kaum wieder vergessen. Die schillernde Metropole steht nicht nur für die offenen Traditionen des Islam, sondern auch für einfache, gastfreundliche und herzliche Menschen. Um so schmerzlicher und schlimmer, wenn der nihilistische Terror nun auch in diese Stadt einzieht. Die Attentate sind zweifellos nicht nur eine ernste innenpolitische Bedrohung, sondern auch ein Angriff auf die konservativ-islamische Regierung und ihre europäisch orientierte Politik. Wäre der Muslim Tayyip Erdogan in seinem Verhältnis zum Terrorismus nicht eine bekannte und verlässliche Größe, die Türkei stünde wohl bereits am Ende ihrer europäischen Integrationsbemühungen.

Istanbul ist mehr als eine Stadt, sie ist ein Symbol des Islam. Die Attentate sind auch ein Angriff auf dieses geistige Symbol. Die Traditionen des sufisch geprägten Islam in der Türkei müssen schon lange und ebenfalls vor dem Angriff und der Destruktion des modernistisch geprägten Terrorismus geschützt werden. Dies ist nicht nur eine Herausforderung im Ausnahmezustand, sondern eine durchaus alltägliche Auseinandersetzung. Um hier zu bestehen, braucht es die klassisch gebildeten Muslime der Türkei. Terrorismus und Extremismus haben weder im türkischen Sufismus, noch in der hanifitischen Rechtsschule geistig oder rechtlich irgendeinen Anklang gefunden.

Das Problem des Islam der letzten Jahrzehnte in der Türkei war, dass die alten und eigenständigen Traditionen der islamischen Wissensvermittlung nach dem Untergang des osmanischen Reiches unterbrochen worden sind. Die meisten der lebendigen und authentischen Überlieferungsketten des türkischen Islam haben aus bekannten Gründen die ideologische Periode des Kemalismus nicht überstanden. Die Renaissance des Islam in den 70er Jahren ging so, mangels Quellen, auch einher mit einer neuen starken Beeinflussung des türkischen Islam durch den arabischen Modernismus.

Das Problem der heutigen innerislamischen Konfrontation mit den geistigen Quellen des Terrorismus und seiner fatalen Akzeptanz von Selbstmordattentaten geht tief. Das Verheerende liegt in der ideologischen Vermischung westlich-totalitärer Ideologiemodelle und Elementen des Islam. Terroristen folgen weder den Denkregeln des Islam, noch den Regeln des Humanismus. Aus islamischer Sicht kann nur das klassische Wissen hier standhalten, zur Dekodierung beitragen und so echte Orientierung geben. Islamische Parteiveranstaltungen leisten so etwas nicht. Vergessen wir nicht: Führende Figuren der türkisch-islamischen Bewegung waren nicht nur westlich ausgebildete Techniker, sondern auch Schüler des arabischen Modernismus. Auch der einfließende Wahabismus hat in der Türkei dieses Vakuum der Lehre zu nutzen versucht und der Einfluß dieser Denkart spiegelt sich nicht nur in der rigiden schwarzen Kleiderordnung einiger türkischen Frauen wieder. Der türkische Islam und seine Gelehrsamkeit muss nun so selbstbewusst wie aktiv mithelfen, die geistigen Quellen des Terrorismus und seine muslimische Komponente und Verortung auszumerzen. Nur so kann Istanbul ein Symbol bleiben.