Mittwoch 24. September 2003, 21:39 Uhr
Stuttgarter Nachrichten: Stuttgarter Nachrichten zu Kopftuch-Urteil:
Stuttgart (ots) - Stuttgarter Nachrichten zu Kopftuch-Urteil:
Betrachtet man den Spruch des Bundesverfassungsgerichts vor allem
unter juristischem Gesichtspunkt, kann man sagen: Das Gericht hat
sich demonstrativ dem Vorwurf entzogen, in Karlsruhe würde Politik
gemacht; mehr noch: würde Politik ersetzt. Sieht man das Urteil im
Licht einer politischen Amtshilfe, muss man feststellen: Der Zweite
Senat gibt dem Gesetzgeber bei einem gesellschaftspolitisch hoch
brisanten ANZEIGE

Problem keine Orientierung. Er drückt sich um eine
Entscheidung, verweigert eine Rechtssicherheit und überlässt diese
den Ideologen - indem jedes Land, je nach Parteidominanz, die
Kopftuchfrage beantworten kann, wie es will. Schlimmer: Das Gericht
lädt mit seinem Spruch, es komme darauf an, "wie ein Kopftuch auf
einen Betrachter wirken kann", zur spitzfindigen Selbstbedienung im
Grundgesetzladen ein.

ots-Originaltext: Stuttgarter Nachrichten

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Mittwoch 24. September 2003, 21:37 Uhr
BVG: Kein Kopftuchverbot in Schulen

Moslemischen Lehrerinnen in Deutschland darf das Tragen von Kopftüchern im Schulunterricht ohne eine klare gesetzliche Grundlage nicht verboten werden. Das entschied das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht folgte damit zwar der Klage der Lehrerin Fereshta Ludin, die in Baden-Württemberg wegen ihres Beharrens auf einem Kopftuch nicht unterrichten durfte. Das BVG erklärte ein Kopftuchverbot aber gleichwohl als prinzipiell zulässig und forderte eine gesellschaftliche Debatte darüber, inwieweit die Schule offen sein muss für unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen.

Die Ausländerbeauftrage der Bundesregierung, Marieluise Beck (Grüne), bezeichnete das Urteil als ausgewogen und klug. Im emotionsgeladenen Streit um das Kopftuch in Schulen habe das Gericht mit Blick auf die Zuwanderung von Moslems die Eckpunkte für gesetzliche Regelungen benannt. "Wir brauchen eine gesellschaftspolitische Debatte über die Auswirkungen ANZEIGE

der Zuwanderung in Deutschland", sagte Beck in Karlsruhe.

Der Vorsitzende des Zenralrates der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, zeigte sich dagegen enttäuscht. Er habe sich ein Urteil erhofft, das den Streit endgültig klärt. Nun sei wieder "Unsicherheit" für die Moslems eingetreten, sagte Elyas.

Der Mehrheit der Verfassungsrichter zufolge müssen Bundesländer im Konflikt zwischen der Glaubensfreiheit der Lehrer und der staatlichen Neutralitätspflicht "eine für alle zumutbare Regelung" suchen. Es sei zwar zulässig, mit einem Kopftuchverbot die Religionsfreiheit von Lehrern einzuschränken; doch wegen der Tragweite solch einer Regelung könne das nur auf der Grundlage eines Gesetzes geschehen.

Laut BVG steht es nun Baden-Württemberg und anderen Ländern frei zu bestimmen, in welchem Ausmaß sie religiöse Bezüge in der Schule mit Blick auf die wachsende religiöse Vielfalt zulassen wollen.

Drei der Richter folgten diesem Urteil nicht. Nach ihrer Auffassung stellt sich jeder, der Beamter wird, freiwillig auf die Seite des Staates und ist deshalb in seinem Grundrechtsschutz "funktionell begrenzt". Beamtete Lehrer seien deshalb zur religiös-weltanschaulichen Neutralität und Mäßigung verpflichtet und eine eigene Gesetzesgrundlage für ein Kopftuchverbot nicht nötig.

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http://de.news.yahoo.com/030924/3/3nnrc.html

Mittwoch 24. September 2003, 21:05 Uhr
Länder dürfen grundsätzlich Kopftuch im Unterricht verbieten

Karlsruhe (dpa) - Die Bundesländer dürfen muslimischen Lehrerinnen das Kopftuchtragen im Unterricht verbieten. Dazu müssen sie nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts jedoch eine «hinreichend bestimmte» gesetzliche Grundlage schaffen. Diese fehle derzeit in Baden-Württemberg.

Das Land habe deshalb mit seiner Ablehnung, die muslimische Lehrerin Fereshta Ludin in den Schuldienst zu übernehmen, deren Religionsfreiheit verletzt, entschieden die Richter am Mittwoch in Karlsruhe. Drei der acht Richter stimmten allerdings gegen die Entscheidung. Das Urteil löste überwiegend positive Reaktionen aus. (Aktenzeichen: 2 BvR 1436/02 vom 24. September 2003)

Bayern, Niedersachsen, Hessen und Berlin kündigten an, Musliminnen das Unterrichten mit Kopftuch zu untersagen. Baden-Württemberg will das Urteil prüfen und erst danach über eine Neuregelung entscheiden. Nordrhein-Westfalen sieht sich in seiner Praxis bestätigt, das Tragen eines Kopftuches nach Einzelfallprüfung zuzulassen.

Damit erzielte Ludin, die ihr Kopftuch aus religiösen Gründen auch im Unterricht tragen will, in dem langjährigen Rechtsstreit nur einen Teilerfolg. Nach den Worten des Zweiten Senats ist es möglich - wenn auch nicht wissenschaftlich erwiesen -, dass Schulkinder durch die religiös motivierte Kleidung eines Lehrers beeinflusst und Konflikte mit den Eltern ausgelöst werden.

Die Parlamente müssten diese Gefahren einschätzen, meinten die Richter. «Dem zuständigen Landesgesetzgeber steht es frei, die bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen.» Dies erlaube - je nach religiöser Prägung der Region - unterschiedliche Regelungen in den Ländern.

Baden-Württemberg hatte 1998 die Übernahme Ludins mit Hinweis auf die staatliche Neutralitätspflicht in religiösen Dingen abgelehnt, sich aber gegen eine ausdrückliche gesetzliche Regelung entschieden. Die 1972 in Afghanistan geborene und 1995 eingebürgerte Frau beruft sich dagegen auf ihre Religionsfreiheit. Karlsruhe verwies den Fall zur endgültigen Entscheidung zurück an das Bundesverwaltungsgericht.

Vertreter von Regierungskoalition und Opposition begrüßten es, dass die Entscheidung über ein Kopftuchverbot den Landesparlamenten überlassen bleibe. CDU-Chefin Angela Merkel drängte in der Zeitung «Die Welt» (Montag) auf gesetzliche Kopftuchverbote. Auch der Innenexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, sagte, das Kopftuch im Unterricht sei «mit dem Neutralitätsgebot nicht vereinbar». Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck (Grüne), sprach von einem «integrationspolitischen Signal».

Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, plädierte für einen Ausgleich zwischen Liberalität und staatlicher Religionsferne. FDP-Chef Guido Westerwelle lobte die Entscheidung. Religion gehöre in den Religionsunterricht, ansonsten hätten die Schüler das Recht, nicht in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden.

Kritik äußerte der Zentralrat der Muslime: Würde das Kopftuch im Schuldienst verboten, käme dies einem Berufsverbot für muslimische Lehrerinnen gleich. Das Urteil bringe Unsicherheit für die Muslime. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, begrüßte die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung als «Stärkung des Rechts auf Ausübung der religiösen Freiheit».

Ludin äußerte ihre Hoffnung auf eine faire und vorurteilsfreie Auseinandersetzung. Sie habe das Urteil positiv aufgenommen. «Es ging mir nie um eine politische Entscheidung.»

Mit heftiger Kritik wandten sich die drei unterlegenen Richter gegen die Senatsmehrheit. Die grundsätzliche Verfassungsfrage bleibe unentschieden, und die Volksvertretung werde vom Gericht im Unklaren darüber gelassen, wie eine verfassungsgemäße Regelung aussehen könne. Das kompromisslose Tragen eines Kopftuch im Unterricht sei mit dem Neutralitätsgebot eines Beamten nicht vereinbar.

Nach den Worten der Mehrheit des Zweiten Senats unter Vorsitz von Winfried Hassemer sind christliche, aber auch andere religiöse Bezüge in der Schule nicht schlechthin verboten. «Das Kopftuch ist - anders als das christliche Kreuz - nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol». Es werde indes in jüngster Zeit verstärkt als ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gedeutet - was jedoch nicht die Botschaft Ludins sei. Allerdings komme es für die Beurteilung des Kopftuchtragens darauf an, wie es auf einen Betrachter wirke.