02.09.2003:
Kopenhagen: "Der Letzte macht das Licht aus"
Interview mit Schulleiter Abdallah Jörn Tolstrup über muslimische Kinder in Dänemark

Der Däne Abdallah Jörn Tolstrup (53) ist 1976 Muslim geworden. Er steht bei vielen der 100.000 Muslime Kopenhagens als Direktor der Marokkanischen Schule Kopenhagens (Rönnegade 5) in hohem Ansehen. Neben seiner jahrelangen Tätigkeit als Exportmanager im Yemen und in Ägypten, ist er seit 22 Jahren vor allem im Bereich islamische Schule und Erziehung als Berater tätig gewesen und hat seinerzeit auch die größte arabische Schule Kopenhagens (DIA) mitbegründet. Nachdem er 1995 in Dänemark eine Lehrerausbildung absolviert hat, gründete er 1997 die Marokkanische Schule Kopenhagens, deren Direktor er seit sechs Jahren ist und deren153 Schüler zwischen 6 und 15 Jahren vorwiegend marokkanische - neuerdings auch irakische - sowie auch etwa zehn Kinder von dänisch-ausländischen Eltern haben. Er ist auch einer der beiden muslimischen Mitglieder des 21köpfigen Rates der Freien Schulen Dänemarks, die landesweit in 230 Freien Schulen insgesamt 24.000 Schüler betreuen. Nach einer Besichtigung des eigentlich schönen, alten Industriegebäudes mit Klinkerfassade, das vor kurzem renoviert wurde, wird der Beginn unseres Interviews durch das Schluchzen eines kleinen Jungen an der Türe jäh unterbrochen.

Tolstrup: Oh, das ist vermutlich ein nicht abgeholter Berberjunge aus der ersten Klasse, der weder Dänisch, noch Arabisch noch Französisch spricht. Mal sehen, ob ich jemanden von seiner Familie am Telefon erreiche. Moment mal bitte. (Bald hat er die Schwester des Jungen am Telefon, die ihn zu beruhigen sucht, was seine Tränen aber nur umso heftiger fließen lässt.)

IZ: Kommt das öfter vor? Gibt es niemanden, der Ihnen in solchen Fällen beisteht?

Tolstrup: Ja, jede Woche ein paar Mal. Meist ist es schnell überstanden. Er ist gerade erst eingeschult worden und noch sehr unsicher. Das wird schon. So lernt man den Direx näher kennen (schmunzelt). Unsere Personalinvestitionen müssen sich bislang leider auf das Lehrerkollegium beschränken. Ich sitze auf einem gebrauchten Drehstuhl, wir haben sehr vieles durch Eigeninitiative erreicht, aber es ist noch so vieles zu tun... Naja, immerhin konnten wir uns mittlerweile neue Schulmöbel leisten. Unsere alten Tische, Stühle und Tafeln, die wir von Kopenhagener Grundschulen abgestaubt hatten, konnten wir nun den Afghanen überlassen. Wir steigen also langsam auf.

IZ: Es ist offensichtlich, wie viel Engagement und Liebe in den geschmackvoll bemalten Räumen steckt. Doch es scheint, dass Sie nach Unterrichtsende der Letzte sind, der noch das Licht ausmacht und den Laden abschließt, trügt dieser Eindruck?

Tolstrup: Nein, ich habe sonst schon noch jemanden hier, der heute früher gehen musste. Diese Arbeit ist aber tatsächlich eine sehr stressige, sehr aufregende und sehr faszinierende Angelegenheit. Abgesehen von dem fehlenden Geld das trotz 87,5%igen staatlichen Fördermitteln natürlich sofort in notwendige weitere Renovierungen gesteckt werden müsste, sitze ich hier vor allem auf dem heißen Stuhl mitten im Spannungsfeld der Kulturen. Ich bin ja nun schon fast drei Jahrzehnte meines Lebens praktizierender Muslim und als gelernter Exportmanager, der auch im Ausland tätig war, Einiges gewohnt und mit verschiedenen Mentalitäten sehr vertraut. Aber das muss ich auch sein, denn hier prallen die gegensätzlichsten Pole, Sprachen und Mentalitäten immer wieder aufeinander, reiben sich aneinander und kommen sich so schließlich doch näher. Sehen Sie nur, hier liegt ein Brief, dem ich schon von außen ansehe, dass es wieder ein Beschwerde-Brief von Eltern ist. (öffnet ihn und überfliegt ihn)

IZ: Dürfen wir neugierig sein?

Tolstrup: Wusste ich's doch. Die Anrede lautet bei Beschwerden ausnahmslos: "Liebe Brüder und Schwestern im Islam! ..." - Dieser hier ist ein wiederkehrender Klassiker der Elternbeschwerden: Manche Bilder in unseren Schulbüchern werden als zu freizügig empfunden.

IZ: Dabei heißt die Schule ja noch nicht einmal "islamische Schule", zehn der elf Lehrer sind dänische Nichtmuslime... Worum geht es den Eltern eigentlich primär, wenn sie ihre Kinder auf diese Schule schicken?

Tolstrup: Nun, die Mehrheit der Schüler kommen aus berberisch-marokkanischen Elternhäusern, die sich für ihre Sprösslinge in dieser Reihenfolge Folgendes erhoffen: Arabisch (als Sprache des Dien und der marokkanischen Behörden), Französisch (als zweite Sprache der marokkanischen Behörden) und eine Allgemeinbildung auf Dänisch, die den Kindern das Leben hier erleichtern wird, falls sie sich dafür entscheiden sollten hier zu bleiben. Bei alledem fällt natürlich unser Respekt für und unsere Liebe zum Islam bei der Entscheidung für diese Schule mehr als positiv ins Gewicht. Dabei haben wir es noch nicht einmal zu einem allgemeinen Schulgebet geschafft. Wir haben zwar einen Gebetsraum. Aber er wird aus Gründen des Ablaufs der Unterrichtszeiten nur sehr vereinzelt genutzt. Doch wir arbeiten daran, das zu ändern. Der mentalitätsbedingte Unterschied zwischen den Berbern, die selbst in Marokko meist noch die Underdogs sind und den säkular-atheistischen dänischen Lehrern ist zuweilen atemberaubend. Und deshalb gefällt es mir auch so gut hier. (schmunzelt) Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel: In dem großen unrenovierten Saal, den wir vorhin sahen und den wir zu einem Theater- und Festsaal ausbauen wollen, gibt es aufgrund des glatten Industriebeton-Fußbodens und den metallenen Lüftungsanlagen an der Decke einen grässliches Echo, das jede Versammlung oder Aufführung akustisch unöglich machen würde. Die marokkanischen Eltern, die wir um Geld gebeten haben, um den Raum renovieren und nutzen zu können, verstanden das nun überhaupt nicht: In Marokko seien doch ihre schönsten Versammlungsräume - die Moscheen und Saujjas - auch gekachelt und natürliches Echo, das keinen elektrische Verstärker benötige, sei zudem billiger und einfach wunderbar! So geht es ständig holterdipolter über Stock und Stein! Oft habe ich es mit Eltern zu tun, die weder lesen noch schreiben können und deren Kinder wir auf das Doppelleben zwischen städtischem Westen und marokkanischem Bergleben vorbereiten sollen. Dabei ist es nach sieben Jahren Schulbetrieb hier schon viel ruhiger geworden. In den ersten fünf Jahren hatte die Schule sechs Direktoren. Das spricht Bände. Ich mache das jetzt schon seit sechs Jahren und hoffe, dass ich noch lange weiter machen kann.

IZ: Ihre Marokkanische Schule gehört dem Verband der Freien Schulen Dänemarks an. Gibt es noch andere Schulen mit muslimisch geprägtem Hintergrund in Kopenhagen?

Tolstrup: In Dänemark gibt es etwa 700 Freie Schulen, davon haben 18 einen muslimischen Hintergrund, 14 von diesen sind in Kopenhagen. Die wohlhabendste und am modernsten ausgestattete ist die Kopenhagener Milli-Görös-Schule. Doch obwohl sie u.a. die vorgeschriebenen 9 Kubikmeter Bewegungsraum pro Schüler mühelos aufweist, würde ich persönlich nicht unbedingt sagen, dass sie tatsächlich auch die kinderfreundlichste Umgebung besitzt. Aber das sind Grundsatzfragen. In Dänemark haben wir vier Schultypen: Staatliche Schulen, private Schulen, Freie Schulen und die Möglichkeit von Unterricht zu Hause durch Privatlehrer. Dieses relativ freizügige Schulrecht verdanken wir der 150 Jahre alten Initiative einer dänisch-protestantischen Erneuerungsbewegung, die zu dem bis heute gültigen liberalen "Gesetz der öffentlichen Schulen" geführt hat. (www.friskola.dk) Die Dänen sind ziemlich frei bei der Erziehung, solange man einen fundierten Unterricht in Dänisch, Mathematik und Englisch gewährleisten kann. Am Ende der neunten Klasse (ca. im Alter von 15 Jahren) gibt es dann eine für alle Schultypen gleiche schriftliche Prüfung, die FSA, die alle Schultypen ablegen können, um den Standard der Allgemeinbildung extern, von stattlicher Seite zu überprüfen. Zu Beginn haben unsere Schüler z.B. acht Arabisch-Stunden pro Woche, später, wenn sie einen guten Grundstock besitzen, wird es dann deutlich weniger.

IZ: Wie sehen die Grundsätze, die erzieherischen Richtlinien Ihrer Schule aus?

Tolstrup: Wir wollen im Gegensatz zu anderen muslimischen Schulen die Kinder nicht nur darauf abrichten später in der "großen Maschine" zu funktionieren, d.h. wir bevorzugen nicht, wie dies bei anderen muslimischen Schulen geschieht, die naturwissenschaftlichen Fächer und lassen die Geisteswissenschaften nicht links liegen. Unseren Kindern soll einst das gesamte Bildungsspektrum zur Verfügung stehen. Sie sollen sich nach ihrer Neigung entscheiden können. Entscheidend ist für mich nur, dass sie in der Schule einen Horizont vermittelt bekamen, der ihnen klar machte, dass es im Leben Bedeutung gibt. Meine Vorstellung von Respekt des Kindes vor dem Lehrer besteht darin, dass der Lehrer es dem Kind gestattet, ihn zu finden.

IZ: Wie meinen Sie das?

Tolstrup: Allah hat jedes Kind auf seine Art in einem perfekten Zustand geschaffen. Das Kind ist eigentlich nur ein Spiegel, der seine Umgebung unbestechlich reflektiert. Es nimmt die Farbe seiner Umgebung auf. Allah hat jeden Menschen so geschaffen, dass er Wahrheit erkennen kann. Ein Kind versteht sofort, jenseits aller Sprachbarrieren, wie man es behandelt. Wir versuchen dem Kind gegenüber so offen wie möglich zu sein. Wir bemühen uns ganz bewusst darum, dem Kind nicht unsere eigenen Konflikte und Ängste überzustülpen. Wir versuchen ihm nicht übermäßig autoritär zu begegnen. Wir suchen nicht nach seinen negativen Eigenschaften und fixieren diese auch nicht, indem wir sie tadelnd zu bekämpfen suchen. Oft entscheidet das Kind, was es will. Wir zwingen ihm keine Farbe auf. Was wir ihm zu geben versuchen ist Stille und Raum. Natürlich geben wir den großen Rahmen vor, doch darin ist viel Platz für Varianten. Das Kind findet im Lehrer ein Mitgeschöpf Allahs vor. Ich verfolge z.B. ganz praktisch eine Politik der offenen Tür: Jedes Kind kann, wenn es will, hier so lange sitzen wie es will. Neulich saß eine Siebenjährige, die durch den Tod ihrer älteren Schwester ein Trauma erlitten hatte, ganze 14 Tage lang jeden Tag von 8-13 Uhr hier, bis sie sich stabilisiert hatte. Sie konnte sich einfach nicht auf den Unterricht konzentrieren und wollte unbedingt hier schweigend sitzen. Danach war sie o.k.. Es ist schon merkwürdig gewesen, aber so war es.

IZ: Klingt ja alles ziemlich sympathisch, um nicht zu sagen ideal...

Tolstrup: Naja, das heißt nicht, dass es hier nur Überlehrer gibt. Gehe ich zum Beispiel während des Unterrichts durch die Schule, dann ist es stets bei den gleichen Lehrern ruhig und bei den gleichen Lehrern geht es immer drunter und drüber. Auch wir haben hier Lehrer, die es den Schülern nicht gestatten sie zu finden, wenn Sie mir den Ausdruck erlauben. Natürlich gibt es jene Lehrer, die sehr schnell schreien, sich im Grunde vor den Kindern fürchten und hoffen, dass ihre Pensionszeit bald anbricht. Sie haben keine wirkliche Beziehung zu ihren Schülern, wie wir das vermutlich alle aus unserer eigenen Schulzeit kennen. Der Schlüssel ist auch hier die Geduld. Das letzte Jahr war das erste Jahr, in dem wir mit den Lehrern keine größeren Probleme hatten. Ich habe noch zu keinem Kind ein schlechtes Wort sagen müssen.

IZ: Sie sind im 21köpfigen landesweiten Rat der Freien Schulen Dänemarks einer der beiden muslimischen Ratsmitglieder. Wie werden die muslimischen Schulen in diesem altehrwürdigen protestantischen Gremium aufgenommen?

Tolstrup: Zu Beginn sehr skeptisch. Über die Jahre hat sich jedoch ein tragfähiges Vertrauensverhältnis entwickelt. Letztes Jahr gelang es den Muslimen sogar, die Jahresversammlung des Verbandes der Freien Schulen Dänemarks in der größten muslimischen Schule Dänemarks, in der arabischen Schule Kopenhagens (DIA) stattfinden zu lassen. Das war eine sehr gelungene Geste, die viel Gutes bewirkt hat. So langsam haben auch die größten Islam-Hasser zur Kenntnis nehmen müssen, dass muslimische Schulen gesellschaftserhaltende Werte vermitteln: Höflichkeit (Adab), unbedingte Achtung der Familie, einen klaren und praktischen Standpunkt zur Volkskrankheit Alkohol, eine fast schon protestantische Arbeitsethik (um die ethnische Benachteiligung auszugleichen, legen sich muslimische Kinder meist doppelt ins Zeug) - kurz: Sie lernen Freiheit mit Verantwortung, die "Freiheit zu" etwas, nicht nur die "Freiheit von" etwas. Praktizierende Muslime entscheiden sich aktiv dafür das Gute zu gebieten und das Schlechte zu unterbinden.

IZ: Dieses Ideal wird ja nur leider oft nicht erreicht...

Tolstrup: Vergessen Sie nicht, dass es uns nun schon 20 Jahre gekostet hat, das Gros der muslimischen Immigranten davon zu überzeugen, dass sie ihren Islam vor den Dänen nicht verschämt verstecken müssen. Aber machen wir uns doch mal Folgendes klar: Heute gibt die Regierung Millionen von Kronen für Aufklärungs-Kampagnen über Alkoholmissbrauch oder das steigende Hautkrebs-Risiko aus. Trotzdem bechern die Dänen weiter und gehen sommers mit immer weniger Kleidern auf die Straße. Es wäre zum Lachen, verschlängen diese Kampagnen nicht Unsummen von Steuermitteln. Wir sagen: Seid stolz auf euren Islam, aber in Bescheidenheit. Geht raus aus den Wohnungen und zeigt ihn den Nichtmuslimen. Nicht predigen, vielmehr vorbildlich handeln! Unsere Muslime sind in Wahrheit doch die fleischgewordenen protestantischen Ideale der Dänen! Den Angriffen der wenigen aber verbohrten Islam-Hasser bloß nicht mit Wortgefechten begegnen! Gebt ihnen zu essen, zu trinken. Die goldenen Regeln sind die alten: Die Menschen zu sich nach Hause einladen, ihnen die Kinder zeigen, sich ihnen gegenüber gut benehmen, mit den Nachbarn plaudern. Wenn man ins debattieren gerät, so sollte man um Allahs und seiner selbst Willen eines nicht vergessen: zu lächeln. Der Mensch vergisst doch 90% dessen, was man ihm mal gesagt hat. Aber er erinnert sich zu 100% an eine Wohltat, die er erfahren hat.

IZ: Vielen Dank für das Gespräch!

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