Fundamentalismus in Nigeria, Toleranz in Senegal - der Islam in Afrika / Von Thomas Scheen
ABIDJAN, 1. Januar. Der Tag ist brütend heiß gewesen, und die Kneipe in den Straßen von Dakar bot einen willkommenen Ort für eine Rast. Mahmoud, der sich als Führer angeboten hatte, bestellt ein großes Bier. Zuvor hatte er sich als praktizierender Muslim bezeichnet und lange über die Reinheit der islamischen Lehre gesprochen. Den verwunderten Blick über das alkoholische Getränk tut Mahmoud mit einem Schulterzucken und der Bemerkung ab, er sei ein "linker Muslim".
Mehr als 80 Prozent der senegalesischen Bevölkerung sind muslimisch, doch der unbedarfte Besucher würde es wahrscheinlich nicht bemerken, stünde es nicht in seinem Reiseführer. Der Präsident des Landes, Abdoulaye Wade, ist seit mehr als 30 Jahren mit einer Französin verheiratet und sagt, er sei ein "laizistischer Muslim". Der Herausgeber der einflußreichen senegalesischen Tageszeitung "Walfadjiri", Sidy Niasse, ist dagegen ein glühender Bewunderer der iranischen Revolution und des wahhabitischen Islam, der etwa in Saudi-Arabien Staatsreligion ist. Seine eifernden Radiosendungen, die jeden Freitag in Dakar zu hören sind, findet Mahmoud "zum Einschlafen".
Im Norden Nigerias hat der Islam ein anderes Gesicht. Kano mit seinen mehr als eine Million Einwohnern gilt als eine Hochburg des radikalen Islams, von dem viele befürchten, er werde in Nigeria zu einem Bürgerkrieg führen. Seit dem 11. September hängen in den Straßen von Kano überall Porträts von Usama Bin Ladin. Viele Jugendliche bekunden, sie seien dazu bereit, gegen den "Satan Amerika" in den Krieg zu ziehen. Seit der Einführung der Scharia als alleiniger Rechtsgrundlage in insgesamt elf Bundesstaaten Nordnigerias kam es in den vergangenen achtzehn Monaten immer wieder zu pogromartigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen. Allein in der Stadt Kaduna kamen dabei wahrscheinlich mehr als 2000 Menschen ums Leben. In Zamfara etwa dürfen Frauen und Männer nicht mehr gemeinsam Taxi fahren. Jugendliche, die sich als Tugendwächter verstehen, wachen über die Einhaltung der neuen Vorschriften.
Die afrikanischen Länder mit einer Bevölkerung, die aus den Angehörigen vieler Religionen besteht und in denen auch viele Muslime leben, ziehen sich heute wie ein Gürtel von Dakar in Senegal quer über den Kontinent bis nach Kenia. In all diesen Ländern ist der Islam auf dem Vormarsch. Doch verläßliche Zahlen gibt es nicht, weder über Zuwachsraten noch über die Gesamtzahl schwarzafrikanischer Muslime. Viele Regierungen schrecken vor einer Volkszählung zurück. Dabei könnte sich herausstellen, daß die bislang für eine Minderheit gehaltenen Muslime in Wahrheit die Mehrheit stellen. Auch dafür ist Nigeria ein gutes Beispiel.
Die Attraktivität des Islams für viele Afrikaner ist leicht zu erklären: Die Gemeinschaft hat Vorrang vor dem einzelnen, es gibt eine klare Aufteilung der Rollen von Frau und Mann, und Polygamie wird geduldet. Im Gegensatz dazu wird das Christentum in Afrika in erster Linie mit Geldverdienen in Verbindung gebracht. Das kritisieren Muslime wie Christen. Hinzu kommt die Enttäuschung über "westliche" Werte. Viele verstehen sie als christliche Werte. Das gilt auch für demokratische Regierungssysteme, die aus der Sicht der einfachen Leute zu nichts geführt haben außer zu Wahlfälschungen, die es den korrupten Eliten erlauben, sich weiter zu bereichern. Der Islam hingegen verspricht zumindest Recht und Gerechtigkeit.
Drohen deshalb neben den weit verbreiteten ethnischen Konflikten demnächst Religionskriege auf dem afrikanischen Kontinent? In Sudan hat sich die Führung aus politischem Kalkül und nicht aus Überzeugung der Fundamentalisten in der Regierung entledigt. In Nigeria ist es einigen gelungen, aus politischen Gründen die Religion zu einer Waffe in der Auseinandersetzung um Macht, Geld und Einfluß zu machen. Die Angehörigen der Eliten aus dem Norden, die unter den Militärdiktaturen das Land dominiert hatten, fürchten um ihre Pfründe. Deshalb setzen sie auf religiös motivierte Massenbewegungen. Die Vehemenz, mit der muslimische Einwohner Nigerias die Islamisierung der gesamten Gesellschaft fordern, geht auf die Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit zurück, in einer von Korruption und Gewalt geprägten Nation ein würdiges Auskommen zu finden. Deshalb zu behaupten, nigerianische Muslime nehmen einen Bürgerkrieg in Kauf, ist jedoch falsch. So wurden in Sagamu sechs pakistanische Staatsbürger festgenommen, weil sie von Moscheebesuchern angezeigt worden waren, die über den Aufruf der Pakistanis zum Heiligen Krieg erbost waren.
In den ostafrikanischen Ländern, etwa Kenia und Tansania, waren Muslime in der Vergangenheit systematisch von der Macht ausgeschlossen gewesen. Das hat zu einer Radikalisierung geführt, die heute die Machteliten politisch unter Druck setzt. Zwei der mutmaßlichen Terroristen, die ganz oben auf der Fahndungsliste des amerikanischen Geheimdienstes FBI stehen, stammen aus Kenia und Tansania. In Somalia wiederum, das verdächtigt wird, eine Art Hinterhof des Fundamentalismus in Afrika zu sein, hatte der Zusammenbruch des Staates zu Beginn der neunziger Jahre eine verschärfte Form der Scharia hervorgebracht. Deren drakonische Strafen konnten die allgegenwärtige Gewalt zumindest verringern. Ein Grund, weshalb sich Somalia dafür ausspricht, die Scharia beizubehalten.
In Afrika gibt es aber auch zahlreiche Beispiele für ein tolerantes Miteinander der Religionsgemeinschaften: Senegal, Mali, Burkina Faso, Kamerun und - trotz der politischen Wirren im vergangenen Jahr - auch die Elfenbeinküste gehören dazu. In der etwa zur Hälfte von Muslimen und Christen bewohnten Elfenbeinküste versuchten Politiker ebenfalls, Stimmung zu machen, indem sie auf eine tatsächliche oder vermeintliche Benachteiligung der Muslime hinwiesen. Doch die Einwohner besannen sich nach mehreren unruhigen Wochen auf die alte Toleranz und verweigerten sich. Zwar versteht sich die Bevölkerung im Norden der Elfenbeinküste heute in erster Linie als muslimisch und dann erst als ivorisch. Von einer Radikalisierung zu sprechen wäre indes eine Übertreibung.
Dennoch sieht sich etwa die Regierung des muslimischen Niger heute an vorderster Front gegen einen von Nordnigeria ausgehenden Fundamentalismus. Im Februar 2000 hatten Islamisten in der Hauptstadt Nyamei Bars und Kirchen angegriffen und versucht, Frauen in Miniröcken zu steinigen. Seit dem 11. September stehen die fundamentalistischen Gruppen in Niger unter strenger Beobachtung.
Selbst in traditionell liberalen muslimischen Ländern wie etwa Mali, von wo aus der Islam sich vom 14. Jahrhundert an über Westafrika verbreitete, sind die Stimmen der Scharfmacher nicht länger zu überhören. Auch dort rekrutieren radikale Muslime in den Elendsvierteln Anhänger und finden vor allem bei jungen Arbeitslosen Gehör. Zudem ist Mali Transitland zwischen Schwarz- und Nordafrika, die Grenzen sind aufgrund ihrer Länge kaum zu kontrollieren. Vor allem in Algerien morden immer noch militante Islamisten.
In Sudan und Tschad wiederum gehörte das Gewaltmonopol über Jahrzehnte den Muslimen der Nordregionen. Heute schlägt das Pendel zur anderen Seite aus. Im christlichen Süden Tschads soll in den kommenden Jahren Öl gefördert werden, und die Führer der christlichen Gruppen werden plötzlich vom Norden umworben. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, daß die Religion häufig nur das Feigenblatt für einen Kampf um Ressourcen ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.01.2002, Nr. 1 / Seite 5