Zum "Gehorsam der Frau"
Gelegentlich wird behauptet, der Qur'an erlaube, daß ein Mann seine Frau schlägt, und in
den Gesetzen einiger Länder ist
ein "Züchtigungsrecht" des Mannes festgeschrieben. Die Textgrundlage, mit der dies
begründet wird, ist oft ohne Rücksicht
auf ihre ursprüngliche Bedeutung und ihren historischen Hintergrund interpretiert worden,
und dies macht sich auch in den
meisten Ãœbersetzungen und vielen Qur'ankommentaren bemerkbar. Der betreffende Vers
soll im folgenden gründlich
erläutert werden.
4:34
Die Männer (1) sind verantwortlich (2) für die Frauen (3), insofern als
Gott die jeweils einen
gegenüber den anderen (4) mit Vorzügen begabt hat (5), und insofern
als sie von ihrem
Vermögen aufwenden (6). Darum sind rechtschaffene Frauen die
(Gott) Gehorsamen (7) und
solche, die Geheimnisse mit Gottes Hilfe wahren (8). Diejenigen aber,
von denen ihr
vertrauensbrüchiges Verhalten (9) zu befürchten habt, ermahnt sie,
laßt sie allein in ihren
Kammern und straft sie (10). Wenn sie euch dann gehorchen (11), dann
sucht keinen Vorwand
gegen sie. Gott ist erhaben, groß
1.Das hier mit "Männer" übersetzte Wort ist im arabischen Originaltext rijâl (siehe im
Qur'an verwendete
Grundbegriffe), also eigenständige Persönlichkeiten, nicht unbedingt Männer im
geschlechtlichen Sinne.
Angesprochen sind auch nicht die Männer (sonst würde es heißen: "Ihr Männer seid
verantwortlich für die
Frauen ..."), sondern der Prophet (s), dem der nachfolgende Sachverhalt mitgeteilt
wird; indirekt mitangesprochen
sind die Verantwortlichen in der Gesellschaft (ungeachtet ihres Geschlechts).
2.Sie tragen Verantwortung. Qawwâm ist jemand, der einen anderen stützt und fördert
und für ihn einsteht. Vgl.
auch Sura 4:135, wo die Gläubigen aufgerufen werden: "Kûnû qawwâmîna bil-qist",
"Steht ein für die
Gerechtigkeit ...
3.Eigenständige Persönlichkeiten tragen Verantwortung für Frauen, Kinder und
abhängige Familienangehörige, hier als
an-nisâ' bezeichnet ebenso wie die 4. Sura, in der es gerade um Gerechtigkeit
f&uum;r abhängige Familienangehörige
geht (siehe auch im Qur'an verwendete Grundbegriffe).
4.Die arabische Konstruktion ba'd ... ba'd drückt Gegenseitigkeit aus: Gott hat Männer
und Frauen gegenseitig mit
verschiedenen Vorzügen begabt. Vgl. auch Sura 9:71, wo eine änliche Konstruktion
auf die gegenseitige
Freundschaft der gläubigen Männer und Frauen hinweist, und weitere Stellen im
Qur'an.
5.Erster Aspekt: Gott hat den Menschen (u.a. auch Männern und Frauen)
unterschiedliche Vorzüge gegeben, durch die
sie einander in Familie und Gesellschaft ergänzen sollen.
6.Zweiter Aspekt: Männer sollen mit ihrem Vermögen zum Familienleben beitragen und
nicht die Frauen mit ihrer
biologischen Aufgabe von Schwangerschaft, Geburt, Stillzeit und der grundlegenden
Erziehung der Kinder
alleinlassen. Der Aufwand, der zum Überleben und zur Aufzucht der nächsten
Generation erforderlich ist, soll gerecht
verteilt werden, so daß für alle Beteiligten optimale Möglichkeiten zum Regenerieren
und zur geistig-seelischen
Entfaltung bleiben. Hier wird vor allem der Vater an seine Verantwortung erinnert,
denn er ist ja am
Zustandekommen der nächsten Generation direkt beteiligt. Aber auch hier ist die
Verantwortung nicht
geschlechtsspezifisch oder biologisch beschränkt, sondern jede finanziell eigenständige
Person ist aufgerufen, andere
zu unterstützen.
7.Rechtschaffene Frauen sind a) qânitât, d.h. ausschließlich Gott gehorsam. Dieser hier
verwendte Gehorsamsbegriff
kann nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen angewendet werden (siehe auch den
Abschnitt zum
Gehorsamsbegriff). Sicherlich lieben diese Frauen ihren Ehemann und ihre
Familienangehörigen, lassen sich aber von
ihnen bei aller Zuneigung nicht auf Wege bringen, die ihrem Gewissen widersprechen.
8.Rechtschaffene Frauen b) "hüten Geheimnisse mit Gottes Hilfe," oder sie "hüten
Geheimnisse, die Gott gehütet
sehen möchte." Dazu gehören natürlich auch die Geheimnisse ihrer Ehemänner und die
Familieninteressen, aber
ebenso alles andere, was ihnen in privaten Gesprächen, im Rahmen ihrer
außerfamiliären Tätigkeit usw. mitgeteilt
wird. Sie sind zuverlässig, vertrauenswürdig und verschwiegen, keine Klatschtanten,
denen jedes Selbstwertgefühl
fehlt.
9.Nushûz wird hier in bezug auf die Frauen oft mit "Widerspenstigkeit" oder
"Ungehorsam (dem Ehemann gegenüber)"
übersetzt, während es weiter unten in derselben Sura (4:128), auf Ehemänner
bezogen, mit "rohe Behandlung" o.dgl.
übersetzt wird. Tatsächlich ist damit aber vertrauensbrüchiges Verhalten aller Art
gemeint, sei es in der Ehe, indem sie (bzw. er) dem Ehepartner in den Rücken fällt
und sich treulos und unsolidarisch verhält, während andere Familienmitglieder
gewissenhaft ihre Pflicht erfüllen, sei es der Familie gegenüber, indem sie (bzw. er)
materiellen oder psychischen Schaden anrichtet, oder der Gesellschaft gegenüber durch
asoziales oder kriminelles Verhalten.
10.In jedem dieser Fälle ist mit einer Frau so zu verfahren, wie man seit jeher ganz
selbstverst/auml;ndlich mit einem
Mann verfahren wäre: Ermahnung; Distanzierung, um eine Bedenkzeit zu ermöglichen;
und - wenn damit keine
Besserung bewirkt wird - eine dem Vergehen angemessene Strafe.Angesprochen sind
hier, wie gesagt, nicht die Ehemänner, und diese können nicht einfach in Selbstjustiz ihre
Frauen strafen, die aus irgendwelchen Gründen ihr Mißfallen erregt haben: auch in einem
solchen Fall wäre zunächst eine Aussprache und eine Trennung von Tisch und Bett
notwendig; während im umgekehrten Fall die Frau möglicherweise eine Scheidung in
Erwägung ziehen wird. Männer, die meinten, ihre Frauen bestrafen bzw. schlagen zu
können, wurden vom Propheten (s) getadelt.
Insgesamt war dieser Vers eine verfahrensrechtliche Gleichstellung der Frau, die im
vorislamischen Arabien keine Rechtssicherheit hatte, während die Vorgehensweise
Ermahnung - Distanzierung - Strafrechtliche Maßnahmen unter Männern ungeachtet der
Stammesstruktur selbstverständlich war.
11.Siehe auch den Abschnitt zum Gehorsamsbegriff). Gegen Frauen, die sich in Familie
und Gesellschaft zuverlässig und solidarisch verhalten, , soll man ebensowenig einen
Vorwand suchen wie gegen die entsprechenden Männer.
Halima Krausen, in: Materialien der Initiative Islamische Studien