Der Islam - eine Religion nicht nur für Männer
Fördert der Schleier die persönliche Entfaltung der Frauen?

Von Victor Kocher*
In arabischen Ländern und in Iran ist die Frau in rechtlicher und sozialer Hinsicht im allgemeinen schlechter gestellt als der Mann. Die Re-Islamisierung wirft sie im Kampf um Gleichberechtigung zusätzlich zurück. Dies ist aber weniger auf den Islam als solchen als auf die Erblast der patriarchalischen Tradition und auf die Vereinnahmung der Religion durch konservative Kleriker und Politiker zurückzuführen.

«Man muss sich hüten», schreibt die Islamwissenschafterin Annemarie Schimmel, «eine spätere Entwicklung wie die absolute Abschliessung und Verschleierung der Frau vom Beispiel Mohammeds abzuleiten; er ordnete nur gewisse Restriktionen für seine eigenen Frauen, die ‹Mütter der Gläubigen›, an, während der Koran nur von einer anständigen Bedeckung der Frau spricht. Dass die Frau in der frühislamischen Gesellschaft aktiv am Leben der Gemeinde teilnahm, zeigt sich unter anderem am Beispiel Aischas, die in späteren Jahren, nach dem Tod des Propheten, selbst zu einer Schlacht auszog.» Schimmel betont, dass im Koran immer von gläubigen Männern und Frauen die Rede ist und dass die Musliminnen die gleichen religiösen Pflichten haben wie die muslimischen Männer.

«Ein gewisses Recht»
Der Prophet spricht jedoch in seiner letzten Predigt eindeutig als Vertreter einer patriarchalischen Gesellschaft, der über deren Ungleichheiten ein Stück weit nachgedacht hat, aber nicht darüber hinausgelangt ist: «Ihr habt ein gewisses Recht über eure Frauen, und sie haben ein gewisses Recht über euch. Sie haben euch gegenüber die Pflicht, nicht euer Bett entehren zu lassen und nicht offenkundig unmoralische Handlungen zu begehen. Wenn sie sich so verhalten, so hat Gott euch erlaubt, euch von ihnen zu trennen und sie zu schlagen, aber nicht heftig. (. . .) Behandelt die Frauen freundlich, denn sie sind eure Helfer und können nicht für sich selber einstehen.»

Diese widersprüchlichen Elemente der islamischen Lehre, wie sie aus der Offenbarung im Koran und aus den Taten und Aussprüchen des Propheten abzuleiten sind, bieten Handhabe sowohl für eine fortschrittliche wie auch für eine rückwärtsgewandte Frauenpolitik. So kann die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi plädieren, die Erfindung des Schleiers sei im Grunde die Einführung der Privatsphäre, welche erst die Entfaltung der Frauen ermögliche. Überdies habe der Islam in einem frauenfeindlichen Umfeld erstmals klare Rechte für das weibliche Geschlecht eingeführt: für Ehefrauen, Erbinnen, Witwen oder geschiedene Mütter. Die Gleichheit von Frauen und Männern als Glaubende bedeute völlige Gleichheit in einer Gesellschaft, welche Staat und Religion nicht trenne. Fatima Mernissi weist auf das Beispiel einer Grossenkelin des Propheten namens Sakina hin, welche in jedem ihrer fünf Heiratsverträge habe festschreiben können, dass sie ihrem Gatten nicht gehorchen werde und dass er sich keine zweite Frau nehmen dürfe.

Auf der andern Seite heisst es beim Historiker Ibn Khaldun schon im 14. Jahrhundert: «Die Frauen haben überhaupt keine Macht. Die Männer kontrollieren ihre Handlungen, mit Ausnahme der Pflichten zur Verehrung Gottes.» Mächtige Frauengestalten im Orient wie zum Beispiel die lange vor dem Entstehen des Islams wirkende Königin von Saba, die erfolgreiche Geschäftsfrau von Mekka und erste Gattin des Propheten, Khadija, die pakistanische Premierministerin Benazir Bhutto und die frühere türkische Ministerpräsidenten Ciller sind eher Ausnahmeerscheinungen - Produkte eines Zusammenspiels von persönlicher Veranlagung und familiärer oder politischer Umstände. Was die Regel ist, deutet wohl das Verhalten jener schwarz verschleierten Frauen in einer engen Gasse der iranischen Stadt Qom an, welche sich beim Vorbeigehen eines fremden Mannes scheu an die Wand drücken. Dass Frauen beschnitten werden, scheint zumindest in Ägypten eher Regel- denn Ausnahmefall zu sein. Im Morgenland gehören gewöhnliche Frauen traditionsgemäss ins Harem, den privaten Teil des Hauses, und ihr enger sozialer Kontakt mit männlichen Erwachsenen beschränkt sich auf nahe Verwandte und Vertrauenspersonen.

Fehlendes Prinzip der Gleichstellung
Westliche Gesellschaften kennen den Grundsatz der rechtlichen Gleichheit von Mann und Frau und streben danach, in Abkehr von der patriarchalisch geprägten Vergangenheit die Stellung der Frau zu verbessern - theoretisch bis zu dem Punkt, da alle sozialen Differenzen verschwinden. Dass die Praxis oft anders aussieht, etwa wenn es um gleichen Lohn für gleiche Arbeit geht, motiviert viele, noch mehr für den Schutz der Frau zu tun. In ähnlicher Weise werden schliesslich auch Alternativen zur Ehe akzeptiert. Die islamisch geprägten Gesellschaften hingegen bleiben bei diesem Punkt unscharf und postulieren im besten Fall eine Gleichheit unter Betonung der verschiedenen Rollen, die durch das biologische Faktum der Mutterschaft vorgespurt sind. Die Islah-Partei in Jemen verficht zum Beispiel die Vorstellung, dass es die primäre Aufgabe der Frau sei, sich mit Familie und Heim zu beschäftigen; falls sie darüber hinaus freie Kapazitäten habe, so stehe ihr beim Schritt ins öffentliche Leben mit all seinen Führungspositionen nichts im Weg.

Die biologischen Differenzen werden von Männern, Inhabern ererbter Privilegien, jedoch als Vorwand benützt, um soziale Ungleichheiten zu zementieren. Nach den islamischen Rechtsschulen gilt das Zeugnis einer Frau vor Gericht nur halb soviel wie das eines Mannes, und in der Islamischen Republik Iran konnten Frauen - bis zum Amtsantritt Präsident Khatamis 1997 - nicht Richter werden, höchstens gerichtlicher Beirat. Das Erbteil einer Tochter ist nach dem islamischen Kanon kleiner als das eines Sohnes. Und in den meisten arabischen Ländern wird die Ermordung einer jungen Frau durch einen Blutsverwandten, welcher Ehrenrettung nach einem Sittenverstoss als Tatmotiv angibt, weniger scharf bestraft als ein gewöhnlicher Mord. Auf die Frage, weshalb es im Orient keine Bewegung für die Frauenrechte gebe, antwortet der iranische Parlamentarier Rajaie-Khorassani: «Weil der Prophet bereits den Frauen zivile und politische Rechte einräumte, braucht hier niemand dafür aufzustehen.»

«Ohne Zweifel haben die Männer uns durch die islamische Revolution gewaltig verändert», räumt eine iranische Filmemacherin ein, «doch auch wir haben die Männer anders gemacht.» Erfolgreiche iranische Frauen legen nicht den Massstab der Gleichberechtigung an, sondern orientieren sich an den zahlreichen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Intellektuelle Frauen fassen den Schleier (Tschador, wörtlich «Zelt») als ein subversives Werkzeug auf, welches ihnen genau jenen Raum und Respekt im öffentlichen Leben Irans verleiht, den sie zu ihrer Entfaltung brauchen. Dass manche von ihnen, aber nicht alle, den Tschador bei Auslandreisen ablegen, braucht nicht das Gegenteil zu beweisen, denn andere Gesellschaften verlangen nach anderem Verhalten. Auf einem zweiten Blatt steht, dass der mit Gewalt durchgesetzte Schleierzwang das weibliche Privileg des Schönseins beschneidet, was nur im privaten Kreis wettzumachen ist.

Erfolgreiche Geschäftsfrauen in Iran
Die junge Parlamentarierin Fayezeh Rafsanjani - die Tochter des bis 1997 amtierenden Präsidenten - argumentiert, dass jenes Gesetz, das dem Ehemann ein Vetorecht gegen Auslandreisen seiner Frau einräumt, aus der Zeit des Schahs stamme und gelegentlich überarbeitet werden solle. Dieses Gesetz begründete die traurige Berühmtheit der Amerika-Iranerin Betty Mahmoody, der Autorin des Buches «Nicht ohne meine Tochter». Frau Rafsanjani fördert durch die Einführung geschlechtsgetrennter Sportanlagen den Frauensport, was Töchtern aus ärmeren Volksschichten den Ausbruch aus der konservativen Familienatmosphäre ermöglicht. Ähnlich wirkte die Einführung getrennter Schulen; sie gab auch jenen Mädchen eine Chance auf Bildung, deren rückwärtsgewandte Väter gemischte Klassen als Risiko für die Wahrung der guten Sitten einschätzten. Waren zur Zeit der Revolution 60 Prozent aller iranischen Frauen des Lesens und Schreibens mächtig, so sind es jetzt rund 75 Prozent. Die Eröffnung separater Frauenabteilungen an den Universitäten schuf für die Studentinnen zusätzliche Plätze.

Vor allem in mittleren Rängen der Administration und der Privatwirtschaft machen heute weibliche Fachkräfte einen beträchtlichen Teil der Belegschaft aus; im staatlichen Institut für Masse und Gewichte sind beispielsweise fast alle Ingenieure Frauen. Brillante Frauen führen grosse Unternehmen, etwa die in Frankreich ausgebildete Gattin des Vizepräsidenten Habibi, welche die Pharma-Fabrik Soha leitet. Nach Darstellung von Soziologen sind Frauen gewöhnlich in den Bereichen Erziehung, Krankenpflege und Medizin tätig; in anderen Bereichen stossen sie auf den Widerstand der Männer. Im iranischen Parlament sitzen zehn weibliche Abgeordnete. Frauen kämpfen um Mitsprache bei den Gralshütern der islamischen Verfassung, um einen Sitz im zwölfköpfigen Wächterrat, zumal in Qom auch weibliche Mullahs ausgebildet werden. Das Erschrecken über das starke Wachstum der Bevölkerung hat den Staat zur Propagierung der Familienplanung bewogen. Der Präsident hat eine Beraterin für Frauenfragen, Shahla Habibi, angestellt. Ihr Mitarbeiterstab umfasst 40 Personen. Shahla Habibi fiel bei der Frauenkonferenz von Peking im Herbst 1995 dadurch auf, dass sie bei jeder Beteuerung der Rechte und der Gleichheit der Frauen relativierend auf den Islam und die Landessitten verwies.

Natürlich hat die nach Paris und San Francisco ausgerichtete bürgerliche Elite von Nord-Teheran nur ein Achselzucken für das ganze «Mullah-Business» übrig, welches ihren Frauen die Auseinandersetzung mit dem bigotten Verhaltenskodex der islamistischen Politiker aufzwang. «Seit wann vergleichen wir uns denn mit den Reaktionären von Saudiarabien?» fragt entsetzt eine Dame aus besserem Haus. Doch das Argument der Regimeanhänger, die Revolution habe den Frauen aus den Unterschichten einen grösseren Spielraum verschafft, kann nicht so leicht übergangen werden. Der Vergleich mit dem Reich der Wahhabiten, wo die alten Bescheidenheitsgebote der innerarabischen Beduinenstämme und der Schleierzwang zu einem totalen Reise- und Fahrverbot für Frauen ohne männlichen Begleiter zugespitzt wurden, fällt klar zugunsten Irans aus.

Eine gewisse Doppelmoral
Bei einem Vergleich zwischen Iran und den Golf-Emiraten oder Ägypten, wo unzählige Frauen erfolgreich mitten im wirtschaftlichen und politischen Leben stehen, fällt allerdings das Urteil nicht mehr so leicht. Für westliche Begriffe angemessene Regelungen kennt zum Beispiel Tunesien, welches die Vielehe verbietet. Doch sind das konstitutionelle Importgüter aus Europa, welche vom Ruf nach einem eigenständigen Modell hinweggefegt werden könnten. Erst der Blick auf Algerien zeigt, dass islamistische Revolutionäre insbesondere in der Periode ihres Kampfs um die Macht gern zum Mittel des Schleierzwangs greifen, weil dieser leicht durchzusetzen ist und zudem so plakativ politischen Einfluss belegt. Daraus müsste eigentlich geschlossen werden können, dass ein etabliertes muslimisches Regime allmählich vom Zwangscharakter bürokratischer Verhaltensnormen abrücken könnte, da dieser Zwang die Oberflächlichkeit dessen offenbart, was als Einsicht in die wahre islamische Identität ausgegeben wird. Anderseits scheint eine gewisse Doppelmoral mit zum Dasein der Muslime zu gehören. Viele begrüssen die als gottgegeben verstandenen und vom Staat aufgezwungenen Verhaltensregeln, um ihre eigene Schwäche möglichst zu überwinden und persönliche Würde zu gewinnen. Offene Debatten über den emanzipierenden und modernisierenden Charakter der Religion scheinen unter Muslimen erst dann möglich zu werden, wenn nicht mehr automatisch zusammen mit dem Islam auch die Macht im Staat in Frage gestellt wird. Und ob dies möglich ist, solange die These von «Din wa daula», der Identität von Religion und Staat, als Kernsatz der muslimischen Befreiung verfochten wird, sei dahingestellt.

Neue Zürcher Zeitung vom 27. Juli 1996
* Der Autor ist Nahost-Korrespondent der NZZ
http://www.nzz.ch/dossiers/islamismus/islam_kocher3.html