Nun, ich denke, Deine Position ist, die Gesellschaft durch "Kritik" voranzubringen, das heißt durch einen immer weitergehenden "aufklärerischen" Prozeß. Diese Meinung sei Dir unbenommen, ich habe nur eine andere.
Zunächst einmal halte ich einen naiven aufklärerischen Optimismus für grundsätzlich illusionär. Hat das Christentum etwas nachgelassen, blüht stattdessen die Esoterik oder politischer Wahn oder was weiß ich.
Es geht m.E. gar nicht darum, daß man letzten Endes unbedingt erfolgreich ist,sondern darum, daß man das möglichste versucht hat. Aufklärung ist eine Hilfe zur Selbsthilfe und ich bin definitiv der Meinung, daß dies die einzig richtige Hilfe ist, die man einem anderen geben kann.
Menschen, die in ihrer Mehrheit ziemlich dumm und leichtgläubig sind. Dafür können sie nichts, das ist ihr Naturell. Erziehung kann dazu dienen, ihr Potential abzurufen, sie kann aber nicht einen dummen Menschen in einen klugen verwandeln, einen Leichtgläubigen in einen Skeptischen.
Ich bin nicht der Meinung, daß die Mehrheit dumm ist, ist bin aber der Meinung, daß diejenigen, die davon überzeugt sind, daß die Mehrheit der Menschen dumm ist, auch alles daran setzen, sie in diesem Zustand zu halten, ultimativ, um sie als Masse einfacher zu kontrollieren. Dies mag aus politischen Gründen und massenpsychologischen Gründen sogar eine Berechtigung haben, doch meine humanistische Überzeugung läßt sich damit nicht in Einklang bringen.
Wohlgemerkt, wer sich selbst dazu entscheidet, "dumm" zu bleiben und sein Potential nicht zu entwickeln, dem muß diese Entscheidung unbenommen bleiben - doch es muß gewährleistet sein, daß es sich dabei auch um eine persönliche und gnaz besonders um eine informierte Entscheidung handelt.
Der aufklärerische Standpunkt ist nicht nur in seinen Zielen illusionär, er ist es auch in dem Wahn, daß der Fortschritt immer weiter ginge. Und das ist mir zu optimistisch, denn es kann durchaus auch wieder zurück gehen.
Auch die Degradation einer Gesellschaft ist eine Entwicklung. Ich sprach ja auch nicht von "Fortschritt", sondern von der Möglichkeit, sogar vom Recht, informierte Entscheidungen zu treffen.
aber bei mir dominiert weitaus mehr die Sorge, daß wir unsere Errungenschaften verspielen könnten, als daß mich die Frage umtreibt, wie wir weitere Fortschritte erzielen könnte. Und wir könnten einiges verspielen. Wir können Europa verspielen, wir könnten etwas auch im religiösen Bereich die Ökumene verspielen, die dem Atheisten wahrscheinlich wurscht ist, die aber durchaus etwas sehr wichtiges beschreibt.
Welche grandiosen, besonders bewahrenswerten, Errungenschaften haben wir denn erreicht, die andere nicht auch, vielleicht langsamer, vielleicht schneller, ebenso erreicht haben? Bei der Ökumene, im Sinne des Verständnissen zwischen den Religionen haben wir beispielweise sicherlich keine fortschrittlichere Position erreicht, als einige asiatischen Länder (und selbst dort gibt es zuvorderst den Konflikt mit nur einer invasiven Religion, das ist nachdenkenswert).
Zur Kritik habe ich ein anderes Verhältnis wie Du, weil mein Hauptmovens die Sorge ist. Ich habe Angst, daß Europa an nationalen Egoismen zugrunde geht, weil der Idealismus der Gründerväter verloren gegangen ist.
Das ist richtig - ich kritisiere aus dem Gedanken heraus, daß ich etwas nicht richtig finde. Dies aber nicht leichtfertig,sondern nur, wenn ich dazu stabile Argumente zu haben glaube und etwaige Gegenargumente zumindest grob vorab auf ihren Gehalt beurteilen konnte. Mir geht es zuvorderst um die Legalität, Legitimität, Wissen und Prinzip - also Dinge, die von jedem nachvollzogen werden können.
Ich habe Angst, daß evangelikale Strömungen Pfingstler und was weiß ich, die ökumenische Strömung kaput machen könnten. Ich habe auch Angst, daß diese Gesellschaft ihre religiöse Toleranz gegenüber anderen Religionsgemeinschaften verlieren könnte.
Dieser Bereich ist für mich zum Beispiel völlig irrelevant. Außerdem bin ich der Aufassung, daß die christlichen Spielarten der Religion ihren Kampf gegen z.B. atheistische und islamische Strömungen schon lange verloren haben. Schon auf mittlere Sicht bleibt ihnen nur noch Appeasement oder Untergang - und das Mittel der Wahl ist derzeit anscheinend das Appeasement, ein Verhalten, daß auch evolutionär nur in sehr wenigen Fällen einen Vorteil erbracht hat.
So beschreibt das, was Du als surreal an mir siehst, im Grunde nichts weiter als daß ich besorgt bin und als soziales Wesen agieren möchte, das dieser Gesellschaft keinen unnötigen Schaden zufügen möchte. Diese Gedanken scheinen Dir aber so fremd zu sein, daß wir im Grunde keine gemeinsame Gesprächsebene mehr finden.
Ich darf es Dir an dieser Stelle sagen, daß ich auf die "deutsche demokratische Grundordnung" in meinem Leben bisher, in verschiedenen Funktionen, dreimal einen Eid geschworen habe. Darauf, sie zu bewahren und gegen jene, die sie verändern wollen, zu verteidigen, und jedesmal habe ich diesen Eid voller Überzeugung ausgesprochen. Ich habe diese Überzeugung auch heute noch, doch die Grundordnung, genauer, sie und auch die Idee dieser Ordnung, ist nicht mehr die, die sie einmal war, als sie erstellt wurde. Die Konsequenz, die sich für mich aus diesen Aussagen ergibt, verstehst Du sicher.

Ein soziales Wesen sollte übrigens nicht nur dafür sorgen, daß er den anderen Mitgliedern dieser seiner Gruppe nicht schadet, sondern auch dafür, daß er die Gruppe an sich voran bringt. Sonst besteht nämlich die Gefahr, daß man am Ende nur noch Symptome, anstatt die Erreger, bekämpft.

Ansonsten teile ich Deinen Gedanken, daß wir uns auf der Ebene, auf der wir uns austauschen konnten und wollten, weitgehend verständigt und unsere Argumente ausgetauscht haben.