Worin besteht denn eigentlich unser grundsätzlicher Dissenz? Nun, ich denke, Deine Position ist, die Gesellschaft durch "Kritik" voranzubringen, das heißt durch einen immer weitergehenden "aufklärerischen" Prozeß. Diese Meinung sei Dir unbenommen, ich habe nur eine andere.

Zunächst einmal halte ich einen naiven aufklärerischen Optimismus für grundsätzlich illusionär. Hat das Christentum etwas nachgelassen, blüht stattdessen die Esoterik oder politischer Wahn oder was weiß ich.

Niemand will Dir Deine Kritik weg nehmen, es ist nur die Frage, was Du mit ihr bewirkst. Zunächst einmal sollte man die Welt doch wahrnehmen, wie sie ist und nicht wie man sie haben möchte. Die Welt besteht aus Menschen. Menschen, die in ihrer Mehrheit ziemlich dumm und leichtgläubig sind. Dafür können sie nichts, das ist ihr Naturell. Erziehung kann dazu dienen, ihr Potential abzurufen, sie kann aber nicht einen dummen Menschen in einen klugen verwandeln, einen Leichtgläubigen in einen Skeptischen.

Der aufklärerische Standpunkt ist nicht nur in seinen Zielen illusionär, er ist es auch in dem Wahn, daß der Fortschritt immer weiter ginge. Und das ist mir zu optimistisch, denn es kann durchaus auch wieder zurück gehen. Ich bin mit dieser Gesellschaft im wesentlichen einverstanden, das heißt nicht mit allen Dingen, aber bei mir dominiert weitaus mehr die Sorge, daß wir unsere Errungenschaften verspielen könnten, als daß mich die Frage umtreibt, wie wir weitere Fortschritte erzielen könnte. Und wir könnten einiges verspielen. Wir können Europa verspielen, wir könnten etwas auch im religiösen Bereich die Ökumene verspielen, die dem Atheisten wahrscheinlich wurscht ist, die aber durchaus etwas sehr wichtiges beschreibt.

Zur Kritik habe ich ein anderes Verhältnis wie Du, weil mein Hauptmovens die Sorge ist. Ich habe Angst, daß Europa an nationalen Egoismen zugrunde geht, weil der Idealismus der Gründerväter verloren gegangen ist. Ich habe Angst, daß evangelikale Strömungen Pfingstler und was weiß ich, die ökumenische Strömung kaput machen könnten. Ich habe auch Angst, daß diese Gesellschaft ihre religiöse Toleranz gegenüber anderen Religionsgemeinschaften verlieren könnte.

So beschreibt das, was Du als surreal an mir siehst, im Grunde nichts weiter als daß ich besorgt bin und als soziales Wesen agieren möchte, das dieser Gesellschaft keinen unnötigen Schaden zufügen möchte. Diese Gedanken scheinen Dir aber so fremd zu sein, daß wir im Grunde keine gemeinsame Gesprächsebene mehr finden.

Gruß Malcolm