Original geschrieben von: Malcolm

Herrschendes oder vorherrschendes religiöses System, in Deutschland das Christentum, zweitens praktizierte Theorie gesellschaftlicher Ideen, also Freiheit der Meinungsäußerung, Gewaltenteilung usw., drittens aber noch sehr viel mehr, was in obige Kategorien überhaupt nicht hineinpaßt, "Leistungskultur", Sportkultur, Eßkultur, Reinlichkeitskultur, Etikette -es gäbe vieles mehr.
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Das ist völlig richtig. Die Kultur ist ein Sammelbegriff für alle von der Gesellschaft für erstrebenswert gehaltene Eigenschaften. Und noch mehr - auch früher geschätzte Eigenschaften gehören zur Kultur. Und da gibt es durchaus überall positive und negative Dinge.
Allerdings definiert jeder "Kultur" und die Bestandteile der Kultur unterschiedlich, zumal dem einen diese und dem anderen jene Bestandteile wichtig oder unwichtig sind. Wenn ich besipielsweise sagte, daß mir historische Maler oder Dichter, gar Musiker, absolut schnuppe sind, würde es sicherlich jemanden geben, der mich als Kulturbanausen bezeichnete und diese Personen/Werke vielmehr als Errungenschaften der Kultur bezeichnete. Und wenn ich es gar sagte, daß ich den christlichen Einfluß in der Pfeife rauchen könnte, würden noch viel mehr aufspringen und dieselbe Gegen-Antwort geben.

[quote=Malcolm]
Deshalb mußt Du, wenn Du sagst, daß die westliche Kultur der arabischen nicht überlegen ist, sagen, was genau Du meinst und zwar in allen Bereichen.

Ja, das ist richtig - aber das würde hier zu weit führen, da ich ja zunächst dazu erst, siehe oben, meinen persönlichen Wertekanon definieren müßte. Zudem müßten wir herausarbeiten, welches Bestandteil einer Kultur nun wirklich "Kultur" ist, und, genauer, welches Teile der Kultur nun wirklich selbst entwickelt anstatt bloß übernommen oder vorgehalten sind. Ich kann aber so viel dazu sagen, daß ich die Kultur z.B. in Deutschland noch vor z.B. 40 Jahren als solide und erfolgreich bezeichnet hätte. Der Umbruch kam in den 90er Jahren, oder präzise: er wurde dann offensichtlich.
Doch falls jemand einen anderen Wertekanon hat, mag er dies vielleicht genau umgekehrt sehen.

Original geschrieben von: Malcolm

Was dagegen die erste Bedeutung der Kultur betrifft, die eigenen Religion einer anderen für überlegen zu wähnen, halte ich für sehr gefährlich. In der Praxis ist hier Respekt angesagt. In der Theorie? Ich halte es für problematisch, Religionen jeder Kritik zu entziehen. Das macht letztenendes blind. Kritik kann nur ausgesprochen dumm sein, wenn man Religion kritisiert, als ob sie ein wissenschaftliches System sei.

Hierzu könnte man sehr viel schreiben, denn die Religion und der Glaube haben nicht nur positive und nicht nur negative Seiten, dafür aber ein großes Mißbrauchpotential.

Original geschrieben von: Malcolm

Zum zweiten kritisiere ich Deine Aussage, daß Du ein "atheistisches System" bevorzugst. Also weißt Du, ein "atheistisches System" ist grundsätzlich totalitär, weil sie im schlimmsten Fall Religion unterdrückt und verfolgt und sie im besten Fall diskriminiert.

Das behauptest Du, allerdings ohne Argumente. Umgekehrt behaupte ich, daß ein religiöses System meist totalitaristisch ist, nicht nur, weil es die typischen Merkmale der Definition besitzt, sondern weil es, z.B. bei den größeren Religionen, auf Diskrimination beruht, die Diskrimination also bereits immamenter Bestandteil des Systems ist, noch bevor andere überhaupt hinzutreten. Der Atheismus an sich tut dies nicht, sondern behauptet nur, daß es keinen Gott gibt oder er nicht an einen bestimmten Gott glaubt, trifft aber keine Aussage darüber, daß er diejenigen, die daran glauben, wegen des Glaubens verfolgen will.
Im übrigen setzte ich atheistisch direkt neben technokratisch, wobei das letztere ein System bezeichnet, daß auf Wissen und Wissenschaft aufbaut und "atheistisch" insofern als ein "nicht auf dem Glauben aufbauend" zu verstehen ist.

Original geschrieben von: Malcolm

ich hielte aber auch rein gar nichts davon, den Atheismus zu irgendeinem inhaltlichen Bestandteil einer Verfassung zu machen.

Das würde auch nicht geschehen, da, wenn es Bestandteil einer Verfassung wäre, die Religion durch eine Weltanschauung ersetzt würde - die aber letztlich ebenfalls auf dem Glauben beruht.

Original geschrieben von: Malcolm

Ich halte es aber umgekehrt auch nicht für vernünftig, daß Religion immer und immerfort "Privatsache" zu sein habe, diesen Standpunkt halte ich auch für nicht genug durchdacht. Sie ist auch Teil des Politischen und wird es immer sein.

Dafür sehe ich keine Zwangsläufigkeit. Es ist auch nicht so, daß bestimmte Werte allein durch bestimmte religiöse Ansichten erzeugt worden wären - denn sonst gäbe es keine prosperierenden Gebiete unterschiedlicher Religionen.
In der Tat denke ich, daß das, was auf privatem Glauben beruht, auch in die private Kammer gehört.
Ich negiere damit nicht die Vergangenheit, den die heutige Situation ist so, wie sie ist, und wie sie entstanden ist. Doch die Gegenwart, die kann sehr wohl beeinflußt werden.

Original geschrieben von: Malcolm

Atheismus ist im übrigen eine Gefahr gerade für die Multikulturalität des Zusammenlebens. Ob man nun Christ ist Atheist ist: Das Bewußtsein, in einer bestimmten religiösen Kultur zu leben, einer bestimmten Herkunft, ist für das Zusammenleben sehr wichtig.

Zum einen hat es wenig Sinn, die Kultur hier nur auf die Religion zu beschränken - darauf hast Du auch selbst hingeweisen gehabt. Zum anderen jedoch müßten wir erst einmal feststellen, ob es "Multikulturalität" überhaupt gibt, und ob ob sie von den Beteiligten (und zwar allen) aktiv erstrebt wird - oder ob dies nicht ein bloßer Wunsch oder Kampfbegriff ist.

Original geschrieben von: Malcolm

Wer als Christ den Islam kritisiert, tut es doch von einem religiösen Standpunkt aus. Sehr oft wird ein Mensch eines anderen Kulturkreises auch als der Religion dieses anderen Kulturkreises automatisch zugehörig gefühlt. Geht dieser Mensch eines anderen Kulturkreises aber auf diese fremde Religion los, weil er meint, als Atheist "neutral" sein zu können, so ist das erstens zweifelhaft und schafft zweifellos böses Blut.

Also siegt im Zweifelsfall die Gewalt über den hehren Willen, das empfinde ich nicht als ein gutes Ziel - und eine Religion, in der es böses Blut gibt, nicht als eine Religion, die sich für ein friedvolles Zusammenleben eignet. Das ist natürlich ein theoretischer Satz, denn in der Praxis sieht es ja gegenteilig aus.

Original geschrieben von: Malcolm

Deshalb bin ich auch mit meiner Kritik am Islam vorsichtig. Kritisiere ich den Islam als Christ, so bin ich mir bewußt, dies als religiöser Mensch zu sein, der selbst im Glashaus sitzt. Meine ich aber als Atheist meinen Kulturkreis verlassen zu können, so ist das in der Wirkung eine völlige Illusion. Der deutsche Atheist, der den Islam kritisiert, wird doch auf irgendeiner Ebene als "unverschämter Christ" wahrgenommen, der islamische Atheist, der den Islam kritisiert, als Überläufer zum Christentum.

Ich verstehe das richtig - weil die Gefahr besteht, daß man von anderen nicht so wahrgenommen wird, wie man es möchte, halte ich besser meinen Mund und vergesse alle meine Kritik? Tut mir leid, einem so surrealen Gedanken kann ich nicht folgen. smile

Original geschrieben von: Malcolm

Und nun stelle ich einfach fest, daß das Zusammenleben von Christen, Muslimen und auch Atheisten über viele Jahrzehnte in dieser Gesellschaft zumindestens scheinbar gut funktioniert hat.

Ja, gnaz salopp gesagt, in den meisten Fällen, weil alle am gleichen Strang gezogen haben und es allen gleich schlecht ging. Die Änderung entstand erst dann, als die eine Gruppe Vorteile erlangte, die die andere nicht hatte oder die eine Gruppe auf Vorteilen bestand, die die andere nicht hatte oder haben wollte.
Wir können zudem schlecht eine Situation zu verschiedenen Zeiten miteinander vergleichen, und nicht zu vergessen, hat die Dynamik in den letzten 50,60 Jahren derart zugenommen, daß das, was heute in 1 Jahr passiert, in der Vergangenheit 10, 20 und mehr Jahre zur Entwicklung gebraucht hat.
Das, was im Jahre 1700, 1800 oder 1950 funktioniert hat, funktioniert nicht automatisch auch heute, denn die Welt heute ist nicht mehr die von damals. Es müssen also Lösungen gefunden werden, die zum einen auf der absoluten Gleichheit der Gruppen beruhen und zum anderen müssen diese Gruppen sich dann auch noch als im gleich Boot sitzend begreifen. Bei beiden genannten Bedingungen erkenne ich nicht, wie man sie erreichen oder danach gewährleisten könnte - in der Theorie wäre dies natürlich durchaus denkbar, zumal in kleinerem Rahmen.