Nun gut, ein gewissermaßen "uminterpretierter" Islam könnte durchaus auch komplementäre Züge zur Mehrheitsgesellschaft entwickeln. Insofern mag ich den linken Standpunkt teilweise vertreten, halte aber ein naives "Die Welt muß bunter werden mit dem Islam" für gefährlich blauäugig. Ein gewisser linker Standpunkt ist dann auch ausgesprochen bizarr, wenn er geradezu sprunghaft agressiv auf die Dogmen des Christentums reagiert und duldsam gegenüber einer in mancherlei Hinsicht auch engere Religion wie den Islam.
Es gibt auch eine dritte, die u.a ich vertrete - ich halte die westliche Kultur nicht für überlegen, befürworte aber prinzipiell nichtreligiöse und technokratische, eventuell meritokratische Systeme, sowie unbedingte Staats-Transparenz und die Freiheit der Meinung.
Wir müssen uns darüber verständigen, was wir mit "Kultur" eigentlich meinen. Kultur ist dreierlei: Herrschendes oder vorherrschendes religiöses System, in Deutschland das Christentum, zweitens praktizierte Theorie gesellschaftlicher Ideen, also Freiheit der Meinungsäußerung, Gewaltenteilung usw., drittens aber noch sehr viel mehr, was in obige Kategorien überhaupt nicht hineinpaßt, "Leistungskultur", Sportkultur, Eßkultur, Reinlichkeitskultur, Etikette -es gäbe vieles mehr.
Deshalb mußt Du, wenn Du sagst, daß die westliche Kultur der arabischen nicht überlegen ist, sagen, was genau Du meinst und zwar in allen Bereichen. Also ist das Christentum dem Islam überlegen, ist die "praktizierte Theorie gesellschaftlicher Ideen" in Europa der von Arabien überlegen, und wie sieht es drittens mit der ganzen Lebenskultur aus.
Das ist dann ein unheimlich weites Feld. Was die Lebenskultur anbetrifft, denke ich, daß wir viel von einander lernen können und uns jegliches Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Kulturen verkneifen sollten. Es mag eine Gastfreundschaft der Orientalen geben, von der wir etwas lernen können, eine Gelassenheit und Freundlichkeit des Chinesen, eine Religionstoleranz des Japaners, eine Genußfreudigkeit des Franzosen ( ein Klischee), es mag angenehme Sitten bei den Thailändern geben, eine Lebensfreude des Afrikaners, eine gewisse Vornehmheit des Inders, ein Gefühl für Harmonie beim Asiaten und was dergleichen mehr ist - das sind eh nur Beispiele, ich weiß nicht, ob sie stimmen, wahrscheinlich nicht, aber darum geht es ja auch nicht, es sind ja nur Beispiele.
In diesem Bereich der "Lebenskultur" gilt es, jedes Supramitätsgefühl zu vermeiden, denn alle Dinge haben zwei Seiten, Fleiß ist nicht nur etwas durchaus Positives, Harmonie kann zur Harmoniesucht werden usw., wichtig ist es hier nur das Positive im Standpunkt seines gegenübers zu sehen ohne das Negative zu übersehen und so auch seinen anderen Standpunkt nicht zu übersehen.
Was dagegen die erste Bedeutung der Kultur betrifft, die eigenen Religion einer anderen für überlegen zu wähnen, halte ich für sehr gefährlich. In der Praxis ist hier Respekt angesagt. In der Theorie? Ich halte es für problematisch, Religionen jeder Kritik zu entziehen. Das macht letztenendes blind. Kritik kann nur ausgesprochen dumm sein, wenn man Religion kritisiert, als ob sie ein wissenschaftliches System sei. Entscheidend ist doch wohl, daß religiöse Texte hochintelligente Texte sind, in denen nur sehr dumme Dinge stehen. Wer das nicht begreift, begreift an der Religion mit Verlaub gar nichts.
Zum zweiten kritisiere ich Deine Aussage, daß Du ein "atheistisches System" bevorzugst. Also weißt Du, ein "atheistisches System" ist grundsätzlich totalitär, weil sie im schlimmsten Fall Religion unterdrückt und verfolgt und sie im besten Fall diskriminiert. Davon halte ich gar nichts. Du willst die "Freiheit der Meinung", nur anderseits "atheistische Systeme" - das paßt nicht zusammen.
Nur vielleicht meinst Du es ja auch anders. Was Du vielleicht wirklich meinst, ist, daß gewisse Grundprinzipien des Zusammenlebens religionsneutral verfaßt sein sollten - und da gebe ich Dir wieder recht. Ich halte zum Beispiel nichts von religiösen Präambeln in verfassungsrechtlichen Grundtexten - und da würden wir uns vermutlich treffen -, ich hielte aber auch rein gar nichts davon, den Atheismus zu irgendeinem inhaltlichen Bestandteil einer Verfassung zu machen.
Ich halte es aber umgekehrt auch nicht für vernünftig, daß Religion immer und immerfort "Privatsache" zu sein habe, diesen Standpunkt halte ich auch für nicht genug durchdacht. Sie ist auch Teil des Politischen und wird es immer sein.
Atheismus ist im übrigen eine Gefahr gerade für die Multikulturalität des Zusammenlebens. Ob man nun Christ ist Atheist ist: Das Bewußtsein, in einer bestimmten religiösen Kultur zu leben, einer bestimmten Herkunft, ist für das Zusammenleben sehr wichtig. Wer als Christ den Islam kritisiert, tut es doch von einem religiösen Standpunkt aus. Sehr oft wird ein Mensch eines anderen Kulturkreises auch als der Religion dieses anderen Kulturkreises automatisch zugehörig gefühlt. Geht dieser Mensch eines anderen Kulturkreises aber auf diese fremde Religion los, weil er meint, als Atheist "neutral" sein zu können, so ist das erstens zweifelhaft und schafft zweifellos böses Blut.
Deshalb bin ich auch mit meiner Kritik am Islam vorsichtig. Kritisiere ich den Islam als Christ, so bin ich mir bewußt, dies als religiöser Mensch zu sein, der selbst im Glashaus sitzt. Meine ich aber als Atheist meinen Kulturkreis verlassen zu können, so ist das in der Wirkung eine völlige Illusion. Der deutsche Atheist, der den Islam kritisiert, wird doch auf irgendeiner Ebene als "unverschämter Christ" wahrgenommen, der islamische Atheist, der den Islam kritisiert, als Überläufer zum Christentum.
Und nun stelle ich einfach fest, daß das Zusammenleben von Christen, Muslimen und auch Atheisten über viele Jahrzehnte in dieser Gesellschaft zumindestens scheinbar gut funktioniert hat. Man wußte nicht viel voneinander - und vielleicht war das auch besser so. Nun versucht man wie Du sagst, die Zahnpasta in die Tube zurück zu bekommen. Das geht nicht, was aber vielleicht doch geht, ist so zu tun, als ob die Zahnpasta immer noch in der Zahnpastatube wäre - und das mag auf Dauer doch funktionieren. Wollen wir es hoffen.
Gruß Malcolm