Man muß sich darüber verständigen, was "Mündigkeit" beim mündigen Bürger bedeutet. Sie bedeutet ganz bestimmt nicht Kompetenz.
Das kommt ganz darauf an, in welchem Zusammenhang der Begriff benutzt wird. Im Kontext "mündiger Bürger" heißt es in etwa, daß die Bürger nicht nur für sich selbst Verantwortung übernehmen, sondern auch für ihren Staat und ihre Gesellschaft.
Und da wiederum kommt es darauf an, was man von jemandem erwartet, der eine Verantwortung übernehmen will - ich würde davon z.B. auch eine gewisse Kompetenz und Willen erwarten, denn ansonsten ist derjenige eher nicht dazu geeignet, Verantwortung zu tragen.
Ich brauche kein abgeschlossenes Studium der Volkswirtschaft, der Politikwissenschaft und der Jurisprudenz, um bei einer politischen Wahlentscheidung mein Kreuzchen bei einer bestimmten Stelle zu machen.
Kommt immer darauf an, wie eine Demokratie gestaltet wurde - nach einer Theorie ist die Demokratie in einer Masse (z.B. der Regierung eines großen Landes) nur dann effektiv oder möglich, wenn die Wählenden in der Mehrheit ignorant sind.
Siehe zu diesem Thema z.B. auch hier:
http://science.orf.at/stories/1691896/oder Anthony Downs Arbeit zur "Rationalen Ignoranz"
Da nun Mündigkeit etwas anderes ist als Kompetenz, zeugt es geradezu von Unmündigkeit, Wahlentscheidungen aufgrund einer angeblichen, aber gar nicht vorhanden Kompetenz zu treffen.
In den meisten Fällen werden Wahlentscheidung im Hinblick auf Vorteile für das Individuum oder seine direkte Umgebung (Familie, Biotop), getroffen. Hier muß sich der Wählende meist in der Tat entscheiden, einer Aussage eines Politikers zu vertrauen oder nicht, da ein großer Teil der vom Politiker später zu treffenden Entscheidungen für ihn abstrakt ist.
Was nun die Scharia betrifft: Ja sie ist ein Hemmschuh in der Entwicklung der islamischen Welt. Dabei mag es durchaus so sein, daß Menschen auch ein gewisses Vertrauen in "Schariarichter" und dergleichen setzen, weil sie sie als ehrwürdige Gestalten jenseits eines korrupten Systems sehen.
Warum ein Hemmschuh? Für welche Entwicklung? Das kann man doch nur aus einer ganz bestimmten, nämlich westlichen, Sichtweise so sagen, während eine andere Sichtweise durchaus zum entgegengesetzten Schluß kommen kann.
Ich bin absolut nicht der Meinung, daß die Mehrheit der Moslems eine Demokratie der Scharia vorziehen würde; einer etwas abgemilderten, je nach individueller Sicht (und eigenen Situation!) vielleicht, doch nicht dem völligen Verzicht auf das islamische Rechts- und Wertesystem. Und dafür gibt es, aus deren Sicht, auch gute Gründe.
Das Problem sind nur die Radikalinskis, die ihre Länder in die Steinzeit zurückführen wollen.
Nein, absolut nicht - das ist nämlich eher unsere Sicht der Dinge, doch nicht unbedingt auch die Sicht der Betroffenen.
In Tunesien (und darum geht es ja im Thema) gibt es, und das habe ich hier und an anderer Stelle bereits geschrieben, eine gesellschaftliche Schicht, die von den Vorteilen westlichen Denkens und Lebens stark beeinflußt wurde und wird, und es gibt auch eine, sehr kleine, dem Westen zugeneigte intellektuelle Schicht.
Vom Westen, ich muß es genauer sagen: von den Medien und einigen gesellschaftlichen Gruppen des Westens, werden hauptsächlich diese beiden Gruppen hofiert und ihre Aussagen verbreitet, sofern sie es nicht selbst tun. Doch nur selten ist der im Recht, oder hat der die Mehrheit, der am lautesten rufen kann.
Die Mehrheit der Tunesier wäre mit einem islamischen Staat, und zwar einem ohne Einwirkung des Westens, durchaus sehr zufrieden, wenn nur, ja WENN dieser Staat dafür sorgen würde, daß sie ein wohlhabenderes und ruhigeres Leben führen könnten (Arbeitplätze, niedrige Preise, Sicherheit, islamische und tunesisch-traditionelle Werte).
Die Alternative dazu ist dann aber nicht automatisch eine westliche Demokratie, sie könnte ebenso ein arabischer Pan-Nationalismus (oder Pan-Mahgrebismus, wie er von Marzouki favorisiert wird) sein, oder eine neue "Demokratur" wie unter BenAli und Konsorten (von denen einige ja in der Nidaa Tunes auftauchen). Es könnte, rein theoretisch, ebenso ein modifizierter Marxismus sein (der allerdings in den letzten 50 Jahren in Tunesien stark an Boden verloren hat, doch zusammen mit einigen linken Gruppierungen immer noch gewisse Kraft hat).
Der Gedanke, daß man nur ein paar Radaubrüder aus dem Verkehr ziehen müßte, damit Tunesien am demokratisch-westlichen Wesen genesen kann, liegt fern ab der Realität.
Zudem - gleiche Wahlen oder eine republikanische Verfassung sind noch lange kein Synonym für Demokratie, die z.B. auch die Minderheitenrepräsentanz einschließt - die in Tunesien z.B. derzeit ein völlig abwegiger Gedanke wäre).
Und dann - wiederum - Tunesien IST ja auch bereits vor dem Umsturz schon eine Demokratie gewesen, auch wenn diese ausgenutzt und korrumpiert worden ist (man lese einmal die alte Verfassung, die neue ist übrigens auch nicht umwerfend anders...).
Man sollte nicht so tun, als ob Tunesien mitten im Busch oder der Wüste läge und von derartigen Dingen jetzt erstmals etwas gehört hat und auf den Einfluß demokratischer Ideen aus dem Westen wartet oder angewiesen wäre.
Doch schon in den letzten 50 Jahren wurde das Konzept nicht verstanden und verinnerlicht - und hatte ohnehin keine Relevanz, weil, wie oben angemerkt, der Staat und seine Bürger ganz andere Sorgen haben, als die gleiche und freie Wahl: Arbeitsplätze, Preise, Wertbewahrung.
Übel genommen hat die Bevölkerung dem "Diktator" BenAli nur, daß er es zuließ, daß sich seine weitere Familie (nicht einmal er selbst) persönlich bereichert hat, und in Tunesien glaubten und glauben viele, sogar sehr viele, Menschen, die, von interessierter Seite lanzierten, Behauptungen, daß das Geld, das BenAli der Wirtschaft entzogen hat, ausgereicht hätte, um Tunesien zu einem Staat werden zu lassen, in dem es sich bequem leben läßt. In anderen Worten: Nur durch die Korruption und den Entzug der Reichtümer des Landes hatte die Bevölkerung ein schlechtes Leben, so wird es geglaubt und von interessierter Seite auch heute noch wieder und wieder beteuert.
Diese böse Illusion lebt so noch immer fort und wird auch die neuen Machthaber mit dem tunesischen Volk nicht glücklich werden lassen - selbst dann nicht, wenn sie die besten Absichten hätten, was jedoch scheinbar ohnehin nicht der Fall ist. Das Resultat wird womöglich darin bestehen, daß die Massen erneut auf die Straße gehen - und dort sterben oder erfolgreich damit sind, einen Machthaber gegen einen anderen auszutauschen, ohne jedoch ultimativ selbst davon zu profitieren. Da sich das Land im Moment aber sehr stark polarisiert, glaube ich, daß im Falle eines Falles eher die Gewalt an erster Stelle stehen wird, denn bei einem erneuten Umsturz ziehen nicht mehr alle an einem Strang.
Die selbstzerstörerische Agonie, in der sich Tunesien derzeit befindet, kann jedenfalls nicht mehr lange andauern - so oder so wird in nicht ferner Zukunft eine Änderung kommen, und ob das nun unbedingt in einer (dauerhaften) Demokratie mündet, so wie der Westen sie versteht, das wage ich zu bezweifeln.