Nun, es ist für Leute im Westen schwer, zu verstehen, daß es Länder gibt, die man vielleicht recht gut zu kennen meint und womöglich schon einmal im Urlaub besucht hat, die deutlich ärmer sind, als man selbst den Eindruck hatte und die Regierungs- und Tourismuspropaganda verkündet hat.

Alleine schon die Behauptung, die unreflektiert übernommen wird, daß z.B. in Tunesien die meisten Menschen zur "Mittelklasse" gehören: daß die "Mittelklasse" nämlich statistisch bei dem Betrag beginnt, der ausreicht, sich täglich Brot und Milch zu kaufen und mit dem Bus in die nächste Ortschaft zu fahren, das wird nur selten erwähnt.
Und bei allem Entzücken darüber, daß die Preise in Tunesien und Ägypten ja so günstig sind, wird vergessen, daß die Preise staatlich subventioniert sind, und allein bei Nahrungsmitteln und Energie geht es da um Hunderte Millionen pro Jahr.

Tunesien hat beispielsweise in den letzten Monaten großzügige Kredite erhalten und kann nun für ein paar Monate mehr die Rechnungen zahlen - doch es war schon ziemlich knapp, so knapp, daß es zunächst unklar war, ob im Januar noch die staatlichen Gehälter hätten gezahlt werden können, und es ist nicht sicher, daß dies in den nächsten Monaten regelmäßig der Fall sein wird.

Nun ist das Land natürlich daran interessiert, seine Zahlungsbilanz zu verbessern, denn neue Kredite, so günstig sie auch sein mögen, erhöhen den Schuldenstand des Landes und die Zinszahlungen verringern die Mittel, die für andere Ausgaben hätten verwendet werden können. Also wird Tunesien versuchen, die Subventionen abzubauen und Steuern zu erhöhen - mit dem Resultat, daß die Lebenshaltungskosten, die derzeit schon mit etwa 5-6% pro Jahr steigen, noch höher werden.
Dafür bekommen - natürlich - auch diejenigen, die Arbeit haben, einen Lohnausgleich, doch dummerweise haben in Tunesien viele keine Arbeit, offizielle Zahlen liegen bei 14-18% und die tatsächliche Arbeitslosigkeit dürfte, insbesondere in den armen Landesteilen, noch wesentlich darüber liegen. Und viele von denen, die arbeiten, haben keine Sozialversicherungen und/oder verdienen nur den Mindestlohn, und das auch nur dann, wenn der Arbeitgeber Arbeit für 40 oder 48 Stunden pro Woche hat - was auch in großen Firmen nicht immer der Fall ist.

So - und nun überlegen wir uns einmal, wie sich die Lage wohl weiter entwickeln könnte, wenn keine ökonomische Verbesserung in Sicht ist, und das ist sie nicht, Tunesien wird regelmäßig von den Rating-Agenturen abgestuft und liegt jetzt etwa auf der Höhe von Griechenland. Finanzierung auf dem Kapitalmarkt ist nicht mehr möglich, Kredite werden stattdessen durch Länder wie die USA, die EU oder Katar abgesichert. Ich gehe jetzt hier gar nicht tiefer auf andere wirtschaftliche Themen ein, wie Auslandsinvestitionen, Bankenkapitalisierung, Schuldenstand der Verbraucher, etc. etc.

Was ganz sicher nicht passieren wird, ist es, daß sich die Menschen jetzt voller Lebensfreude in ihrer Freiheit wohlfühlen und en masse die Straßen mit Rufen nach Demokratisierung fluten - denn die Beschwerden des Lebens sind heute für die meisten ebensoschlecht wie zuvor, und für einige noch schlechter. Das letzte, was einen Menschen, der sich um seine Existenz fürchtet, interessiert, sind hier politische Theorien oder Menschenrechte. Die Treibkraft des Umsturzes war übrigens auch nicht "demokratie" sondern "dignite (Würde)" und im Detail ging es dabei nicht um Rechte, sondern um die Wahrung der Existenzgrundlage (Geld & Arbeit ohne Ausnutzung).

Zudem ist die politische Führung Tunesiens nicht gerade nach Kräften damit beschäftigt, das Land aus dem Loch, in das es gerutscht ist, herauszuholen, sondern damit, ihren Einfluß zu sichern und die politischen Gegner kaltzustellen, notfalls auch per politischem Mord und ihre Pfründe zu sichern - und weiteres Geld zu beschaffen, zur Not auch durch den Ausverkauf staatlicher Unternehmen (siehe gerade in der letzten Woche Tunisiana).
Noch einen Schritt weiter: Selbst wenn die Führung anders agieren würde, dann stößt dies als nächstes auf den Widerstand der Administration, die ebenso wie die Judikative nicht ent-korrumpiert wurde. Die Administration und große Teile der Justiz stecken bis zum Hals in Vetternwirtschaft und massiver Korruption, heute ebenso, wie noch vor drei Jahren. Im Detail mögen einige der Namen andere sein, die Taten jedoch sind es nicht.

Und da hat wirklich jemand die Hoffnung, daß Tunesien auf eine Demokratie westlichen Zuschnitts erreichen wird, und das sogar noch bald? Wenn ein Wunder geschieht, dann ja, doch dazu braucht man mehr als einen Djinn aus der Flasche...

Ich sehe das pessimistisch, sagst Du? Ich versichere Dir, daß ich die Lage noch viel optimistischer sehe, als diverse andere Beobachter. smile

Für Ägypten trifft dies alles übrigens in ähnlicher Weise zu - zwar ist das Land reicher, doch es hat auch wesentlich mehr Einwohner und zusätzlich (zumindest bisher noch...) die Koptenminorität im Lande und die Grenze zu Israel bzw. zu den Palästinensern. Neue Schulden, Inflation von 4+ %, Steuererhöhungen und hohe Arbeitslosigkeit - die weiteren Zutaten sind jedenfalls dieselben, wie bei Tunesien auch.

Original geschrieben von: Malcolm

Wenig hilfreich sind da Begriffe wie "Islamist" oder "Islamismus" ... Ich habe nie wirklich begriffen, was der Begriff eigentlich sagen soll.

Islamismus ist eigentlich lediglich ein Sammelbegriff für alle Ideologien, die sich auf den Islam berufen. Was sich ein bestimmter Autor bei der Verwendung dieses Begriffes denkt, das kann ich Dir natürlich auch nicht sagen. Kaum ein anderes Wort wird derzeit so schwammig verwendet, wie dieses.

Du taäuscht Dich übrigens darin, daß viele Moslems kein Interesse am Islam haben, das haben die meisten sehr wohl und in die Gesellschaft ist die Propaganda dafür tief verwoben, so daß man überall darauf stößt. Viele Moslems kennen jedoch den Islam nur so, wie er in der regionalen Propaganda verkündet wird und ein tiefergehendes Studium erfolgt so gut wie nie. Darum könnte man bei flüchtigem Blick meinen, daß dies oder jenes nicht so wichtig genommen würde und anderes umso mehr - doch dieser Blick trügt. In dem Moment nämlich, wo man aauf einen Widerstand stößt, der vom Nicht-Islam geprägt ist, stehen die meisten Moslems wie ein Mann zusammen und alle Unterschiede schrumpfen zweitweise auf Null, und deshalb wird es dem Westen auch niemals gelingen, den islamischen Ländern eine Demokratie ihres Verständnisses nahezubringen. Diese kann nur aus den Ländern selbst heraus wachsen und aus dem Islam selbst heraus - und dann hätte sie ohnehin einen anderen Inhalt, als der Westen es sich vorstellt.
Bis dahin aber wird noch eine lange Zeit vergehen - auch in den westlichen Ländern konnte die Demokratie erst Raum gewinnen, nachdem die Armut und die wirtschaftlichen Katastrophen besiegt waren (und sie wird mit deren Niedergang wieder Raum verlieren, wie sich ja bereits abzeichnet).