Also ich lese diesen Artikel doch mit großer Skepsis. In der Frankfurter Allgemeine las ich sehr viel gelassenere Artikel. Zum einen habe ich nie, in keinem Artikel, gelesen, daß die neue Verfassung Frauen zu Menschen zweiter Klasse degradiert. Meines Wissens zeichnet sich die Verfassung dadurch aus, daß sie rein gar nichts über dieses Thema sagt.

Bleibt die Sache mit der Scharia. Nur da redet die Verfassung von den "Prinzipien der Scharia", nicht von einer eins zu eins Umsetzung, und derselbe Passus stand auch schon in der alten, "säkularen" Verfassung.

Außerdem halte ich die Salafisten nicht für die "geistigen Kinder" der Muslimbrüder. Das ist eindeutig eine radikalere Gruppierung.

Vor allem halte ich den Präsidenten Mursi nicht gerade für einen Idioten. Das Bild wird verzerrt von den Radikalinskis beider Seiten, von denen die einen, die Salafisten, glauben die großen Gewinner zu sein. Es ist taktisch klug, sie in diesem Glauben zu lassen, denn wenn man dieser Gruppierung ihren Nimbus nimmt, kann man sie vielleicht zurückdrängen.

Ich halte das, was Mursi mit seinen "Dekreten" gemacht hat, auch nicht für einen "Staatsstreich". Das Gegenteil ist der Fall, er hat die alte Mubarakjustiz entmachtet, wie er es vorher schon mit dem Militär gemacht hat. Und das halte ich auch für völlig richtig, denn es ging nicht an, den Weg der Demokratie durch ein "Verfassunggericht" zu blockieren. Für mich ist dies der richtige Weg zur Demokratie.

Ob nämlich die demokratische Gesinnung der Opposition wirklich so über jeden Zweifel erhaben ist, weiß ich nicht. Im moment scheint sie doch frei agieren zu können und zumindestens bei privaten Medien ist sie immer noch dominant. In den staatlichen wird sich wohl etwas ändern, was ich aber auch gut nachvollziehen kann.

Ich persönlich halte jedenfalls den Mursi, nach allem, was ich über ihn gelesen habe, für einen schlauen Hund und möglicherweise auch wirklich klugen Mann. Das mag auf seine Gefolgschaft weniger zutreffen, aber das ist in Deutschland auch nicht anders.

Ich glaube, vor allem diejenigen, die die Avantgarde der Revolution waren, haben heute ein psychologisches Problem, weil sie so etwas wie eine "offene Gesellschaft" ersehnt haben - solche Sehnsüchte gibt es bei allen Revolutionen - und was sie bekommen haben, ist eine klerikale Elite, die sich der Religiösität des einfachen Volkes bedient. Das muß frustrieren, aber irgendwann wird es sicherlich auch Ägypten gelingen wie es in Deutschland gelingt, die sogenannten "Intellektuellen" mit Preisen, Orden und Ehrungen und ein bißchen Aufmerksamkeit ruhig zu stellen. Auf der anderen Seite bleibt dann zu hoffen, daß sich die religiöse Begeisterung auch mal ein bißchen abkühlt und die Gesellschaft sich weiter liberalisiert. Aber bitte, Deutschland hat fast 100 Jahre Erfahrung mit Demokratie unterbrochen von 12 Jahren Terrorherrschaft ( zumindestens der westliche Teil), die aber gewissermaßen auch negative Demokratieerfahrung war und noch vor wenigen Jahrzehnten durften Männer ihren Frauen das Arbeiten verbieten und Homosexualität galt als Verbrechen. Ein schlechtes Land war Deutschland auch damals nicht und ist auch das Ägypten von heute nicht; geben wir den Menschen doch einfach Zeit, sich zu entwickeln.

Gruß Martin


Last edited by Malcolm; 04/01/2013 05:11.