Unruhen in der arabischen Welt Machtwechsel in Tunesien, Gadhafis Macht bröckelt

Mohammed Ghannouchi erklärt in Tunis seinen Rücktritt, in Libyen formiert sich eine Übergangsregierung. Was an diesem Tag geschieht, zeigt der Überblick.

* Datum: 27.2.2011 - 17:21 Uhr

Demonstranten hissen in Bengasi die Flagge Libyens als Zeichen des Protests gegen Staatschef Gadhafi

Mehrere Tote bei Protesten in Nordafrika und Nahost

In Nordafrika und im Nahen Osten haben am Wochenende erneut tausende Menschen gegen autoritäre Führer und soziale Missstände protestiert. Es gibt mehrere Verletzte und Tote.

So wurden im Oman zwei Demonstranten von der Polizei erschossen und im Jemen bei heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei in der Stadt Aden mindestens vier Menschen getötet. Ein Augenzeuge sprach von "wahren Kriegsszenen". Mehrere wichtige Stammesführer sagten sich mit zehntausenden ihrer Anhänger von Präsident Ali Abdallah Saleh los. Der umstrittene Staatschef bekräftigte seine Absicht, das "republikanische Regime" bis zum "letzten Blutstropfen" zu verteidigen.

Von einem massiven Einschreiten von Sicherheitskräften gegen Regierungsgegner wird auch aus der algerischen Hauptstadt Algier berichtet. Hunderte Polizisten versperrten demnach die Zugänge zum Platz und drängten die Demonstranten ab.

In Ägypten entschuldigte sich die Armeeführung für das gewaltsame Vorgehen von Militärpolizisten, nachdem es in der Nacht zum Samstag auf dem Kairoer Tahrir-Platz zu Zusammenstößen mit Demonstranten gekommen war, die den politischen Wandel in Ägypten feierten. Die Polizisten hatten Schlagstöcke und Elektroschocker gegen Demonstranten eingesetzt, um die Menge zu zerstreuen.

Im Golfstaat Bahrain hatten am Samstag erneut tausende Oppositionsanhänger den Sturz von König Hamad bin Issa el Chalifa, in Saudi Arabien forderten mehr als hundert Intellektuelle in einem Appell im Internet politische, wirtschaftliche und soziale Reformen, Gewaltenteilung sowie die Schaffung einer konstitutionellen Monarchie. Unter anderem solle Frauen das Recht auf Arbeit, Bildung, Eigentum und Teilnahme am öffentlichen Leben zugestanden werden.

Und Iraks Ministerpräsident Nuri el Maliki setzte seinen Ministern eine Frist von hundert Tagen, um eine Bilanz ihrer Arbeit zu ziehen. In zahlreichen Städten des Landes hatten zuvor tausende Menschen gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und einen mangelhaften öffentlichen Dienst protestiert.

Machtwechsel in Tunesien

Er hatte den Sturz des Regimes von Dauer-Präsident Ben Ali überlebt und sollte für eine gewisse Kontinuität sorgen: Nun hat auch der Chef der tunesischen Übergangsregierung, Mohamed Ghannouchi, seinen Rücktritt erklärt. Er werde das Amt des Ministerpräsident niederlegen, sagte Ghannouchi während einer Pressekonferenz in Tunis.

Der 69-Jährige zog damit die Konsequenzen aus den anhaltenden Protesten gegen ihn. Bei den schweren Straßenkämpfen am Wochenende hatte es mindestens drei Tote sowie zahlreiche Verletzte gegeben.

Vorbereitung auf den Kampf gegen Gadhafi
Rebellen gewinnen Oberhand in wichtiger Stadt nahe Tripolis

Gegner von Libyens Staatschef Muammar al-Gadhafi haben die Kontrolle über eine strategisch wichtige Stadt unweit von Tripolis übernommen. Die rot, grün und schwarze Fahne des Anti-Gadhafi-Aufstands weht nach Angaben eines Reuters-Reporters auf dem Dach eines Gebäudes im Zentrum von Sawija. Der Ort liegt etwa 50 Kilometer westlich der Hauptstadt. Mehrere Hundert Menschen feierten in den Straßen und riefen "Dies ist unsere Revolution."

Regierungstreue Truppen halten nach Informationen des Fernsehsenders Al-Dschasira allerdings weiterhin Gadhafis Heimatstadt Sirte. Die Stadt sei wichtig, weil damit Oppositionelle aus dem Osten des Landes nicht über die Küstenstrße in die Hauptstadt fahren könnten.

Der Gadhafi-Clan hat sich nach übereinstimmenden Berichten in dem Militärkomplex Bab al-Asisija in Tripolis verschanzt. Laut der Tageszeitung Asharq Al-Awsat schützten Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Raketenwerfer das Gebiet. Gadhafi-treue Milizen riegelten die Zufahrten ab. Eine unabhängige Bestätigung für diese Berichte gibt es nicht.

In der Millionenmetropole herrschte am Sonntag nach einigen Augenzeugenberichten angespannte Ruhe. Auf Twitter werden hingegen andere Stimmen laut. "Ich schwöre, dass jeder, der sagt, die Situation in Tripolis ist normal, ein Lügner ist. Wir fühlen uns wie kurz vor der Explosion (...) Wenn wir das Haus verlassen, wissen wir nicht, ob wir zurückkehren werden (...) Die Menschen haben Angst vor Lebensmittelknappheit", warnte ein Schreiber mit der Abkürzung LPC.

Imam von al-Azhar ruft zum Widerstand auf

Scheich Mohamed al-Tayeb, Imam des Instituts al-Azhar, hat alle Libyer dazu aufgefordert, sich Gadhafi zu widersetzen, berichtet der arabische Fernsehsender Al-Arabiya online. "Gadhafi ist zu einem tyrannischen Herrscher geworden, der es wagt gegen sein eigenes Volk Krieg zu führen", sagte er in einem Statement. Er habe die libysche Armee und die Offiziellen aufgefordert, Gadhafis Befehle zu missachten. "Ansonsten sind sie Mittäter beim Blutvergießen des libyschen Volkes."

Weiter rief der Imam die westlichen Länder dazu auf, den Menschen, die für ihren Freiheit kämpfen, zu helfen. "Der Westen sollte sich mehr dafür interessieren, Demokratie und Frieden zu unterstützen, als für Öl und das Schützen der eigenen Interessen", zitiert ihn der Fernsehsender. Das al-Azhar-Institut in Kairo ist für die Sunniten die oberste Instanz für religiöse und rechtliche Fragen und gilt als einflussreichstes Islam-Institut der Welt.

Schwere Straßenkämpfe in Tunis

In der tunesischen Hauptstadt Tunis sind am Sonntag wieder schwere Straßenkämpfe aufgeflammt. Zahlreiche Jugendliche versuchten nach Augenzeugenberichten, in Richtung Innenministerium zu marschieren. Sie warfen Fensterscheiben ein, errichteten Barrikaden und bombardierten Polizisten mit Steinen. Die Sicherheitskräfte reagierten mit Tränengas und Warnschüssen.

In einer weiteren Meldung von Al-Arabiya wird berichtet, dass Oppositionelle nun eine Übergangsregierung gebildet haben. Der ehemalige Justizminister Mustafa Abdul Dschalil habe sich mit Stammesführern geeinigt. Über Twitter ließ Dschalil verbreiten, dass die Übergangsregierung für drei Monate im Amt bleiben solle. Danach werde sie durch eine gewählte Regierung ersetzt.

Die Übergangsregierung sitzt in Bengasi, der zweitgrößten Stadt Libyens. Staatschef Gadhafi hat nach Angaben der Opposition die Kontrolle über den gesamten Osten des Landes verloren.

Zwei Tote bei Protesten in Oman

In Oman ist es zu Zusammenstößen zwischen Regierungsgegnern und Sicherheitskräften gekommen. Die Polizei habe Tränengas gegen Steine werfende Demonstranten eingesetzt, sagten Augenzeugen. Zwei Demonstranten seien getötet worden. Fünf weitere Menschen wurden durch Gummigeschosse verletzt, als in der Küstenstadt Sohar Demonstranten eine Polizeiwache zu stürmen versuchten. Auch im Süden des Sultanats gab es Proteste. In Salala hatten Demonstranten seit Freitag in der Nähe eines Provinzgouverneurs ihre Zelte aufgeschlagen.

Westerwelle wird an Auftaktsitzung in Genf teilnehmen

Am Montag wird Bundesaußenminister Guido Westerwelle zur Auftaktsitzung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen nach Genf reisen. Hauptthema dürfte die Lage in Libyen sein. Wie es hieß, wird er dort unter anderem mit der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton sowie deren russischem Kollegen Sergej Lawrow zusammentreffen.

Merkel begrüßt UN-Sanktionen

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat währenddessen die Sanktionen der Vereinten Nationen gegen die Führung in Libyen erneut begrüßt und Gadhafi zum schnellen Rückzug aufgefordert. Der einstimmige Beschluss des Sicherheitsrates sei "ein starkes Signal an Oberst Gadhafi und andere Despoten, dass Menschenrechtsverletzungen nicht ungesühnt bleiben", sagte Merkel in Berlin. Die Einstimmigkeit zeige, dass die internationale Staatengemeinschaft geschlossen sei "in der Verurteilung der Schandtaten Gadhafis".

Diplomatische Immunität entzogen

So legte auch der britische Außenminister William Hague dem libyschen Machthaber den Rücktritt nahe: "Natürlich ist es Zeit für Col. Gadhafi zu gehen." Es sei das Beste, das man für Libyen hoffen könne, sagte er in einem BBC-Interview.

Hague sagte zudem, dass Gadhafi und seinen Söhnen die diplomatische Immunität in Großbritannien entzogen worden sei. "Ich habe eine Anweisung unterschrieben, in der steht, dass nicht nur ihm die diplomatische Immunität (…) entzogen wird, sondern auch seinen Söhnen, seiner Familie, seines Haushalts – es ist also absolut klar, wie wir zu ihm als Staatschef stehen."

Mitarbeiter einer Top-Ölfirma sind dem Protest beigetreten

Auch Mitarbeiter der Arabian Gulf Oil Co (Agoco) haben sich gegen Gadhafi gewandt, wie die Quryna Zeitung online berichtet. Sie bezieht sich dabei auf ein Statement der Arbeiter. Darin heißt es unter anderem, dass bislang drei Mitarbeiter während der Unruhen getötet worden seien.

Agoco ist eine der Top-Ölfirmen Libyens und gehört der staatlichen National Oil Company an. So hat das Unternehmen nach eigenen Angaben im April täglich 450.000 Barrel Öl aus den größten Ölfeldern des Landes gepumpt.

* Quelle: dpa, Reuters, AFP
* Adresse: http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-02/libyen-meldung-ueberblick