SPIEGEL ONLINE
SPIEGEL ONLINE
24. Februar 2011, 11:32 Uhr
Flucht aus Libyen
Gaddafis Schergen machen Hatz auf Tunesier

Aus Ben Guerdane in Tunesien berichtet Mathieu von Rohr

Im Westen Libyens herrscht Anarchie, Zehntausende sind auf der Flucht. Gaddafis Anhänger machen laut Augenzeugenberichten gezielt Jagd auf Gastarbeiter aus Ägypten und Tunesien - das Regime hat sie zu Sündenböcken erklärt, nun rächt es sich mit Repressionen, Raub, Vergewaltigung und Mord.

In Ras al-Dschadir an der Grenze zu Tunesien strömen seit drei Tagen die Flüchtlinge aus dem westlichen Teil Libyens - sie berichten vom Grauen, das sie erlebt haben, und von Gaddafis schwindender Macht. Übereinstimmend erzählen viele von ihnen, Aufständische hätten etwa in der Stadt Zuara, 50 Kilometer von der Grenze, die Waffendepots der Armee gestürmt, und zögen feiernd durch die Straßen.

Auch in den meisten anderen Städten auf den 150 Kilometern zwischen Tripolis und der westlichen Grenze hätten mittlerweile die Aufständischen das Sagen, nur in der unmittelbaren Grenzregion und in Tripolis hätten die Gaddafi-Kräfte noch uneingeschränkt die Macht. Allerdings heißt es in den meisten Berichten von Ankommenden auch, sie hätten auf dem Weg immer wieder Pro-Gaddafi-Kräfte angetroffen. Alle paar Kilometer hätten anderen Milizen oder Soldaten die Macht. Es herrsche Anarchie.

Manche erzählen, von Taxifahrern ausgeraubt worden zu sein, andere loben die Hilfsbereitschaft einfacher Libyer, die sie gegen Gaddafis Schergen verteidigt hätten. Nach Berichten verschiedener Medien ist inzwischen auch die drittgrößte Stadt Libyens, Misurata, östlich von Tripolis, in die Hände von Rebellen gefallen.

Die tunesische Stadt Ben Guerdane, die vom Schmuggel mit Libyen lebt, ein Nest mit ein paar staubigen Straßen, die gesäumt sind mit Geldwechselbüros und Geschäften, die billige Schmuggelware aus Libyen verkaufen - Reifen, Lebensmittel, Benzin - ist zu einem Umschlagplatz für Flüchtlinge, Hilfsgüter und Gerüchte geworden. Und für internationale Medienvertreter, die zu Hunderten hier eingefallen sind, die meisten, weil sie darauf hoffen, von hier aus nach Libyen einreisen zu können.

Gaddafi-Anhänger machen wütend Hatz auf alle Ausländer

Die Flüchtlinge, die hier ankommen, sind vor allem Tunesier - 50.000 von ihnen lebten in Libyen als Arbeitsmigranten. Nachdem Gaddafi und sein Sohn Saif al-Islam die Ausländer für die Aufstände verantwortlich machten, vor allem Tunesier und Ägypter, und sie beschuldigte, unter Drogen zu stehen, begannen die Gaddafi-Anhänger eine wütende Hatz auf alle Ausländer und brachten nach Zeugenaussagen Dutzende um.

Das erzählt etwa Marwan, 23, der seit einem Jahr als Frisör in Tripolis gearbeitet hatte. Er ist am Flughafen von Tunis gelandet, in einem Sonderflug von Tunisair, er berichtet zitternd vom Grauen in der Hauptstadt Tripolis. Eine Horde von Gaddafi-Anhängern habe vor drei Tagen das Apartment gestürmt, in dem er mit anderen Tunesiern lebte, sie seien mit Messern angegriffen und mit Gewehrläufen geschlagen worden, viele seien schwer verletzt worden.

Er sagt, die Gaddafi-Anhänger hätten die Wohnung verwüstet, ihnen Handys und alles Ersparte gestohlen - ihm selbst 3000 Dollar. "Ich habe mit eigenen Augen 15 bis 20 tote Ausländer hinter einem Krankenhaus gesehen, es war grauenvoll." Die Milizen machten auf der Straße Jagd auf alle Ausländer, Tunesierinnen, die er kannte, seien mehrfach vergewaltigt, ihre Haut mit Zigarettenstummeln verbrannt worden. 40 seiner Landsleute seien entführt worden und seither verschwunden. Er habe sich drei Tage in seiner Wohnung versteckt, bis er sich traute, ein Taxi zu nehmen - der Fahrer weigerte sich, ihn zum Flughafen zu fahren und brachte ihn nur zum Konsulat.

Der tunesische "Revolutionsrat" baut ein Auffanglager

Auch am Flughafen seien sie geschlagen und erniedrigt worden von libyschen Soldaten. Wie viele der anderen ankommenden Flüchtlinge beschwert sich Marwan über die mangelnden Anstrengungen Tunesiens, seine 50.000 Landsleute zu evakuieren - ein Mitarbeiter von Tunisair habe sogar versucht, sie zu erpressen und ihnen 90 Euro für einen Platz im Flieger abzuknöpfen. "Ich bin nach Libyen gegangen, weil es hier keine Arbeit gibt, aber die haben uns immer schon rassistisch behandelt", sagt Marwan. "Ich werde nie mehr in ein arabisches Land arbeiten gehen, nur noch nach Europa."

Am Flughafen in Tripolis warten laut Medienberichten Zehntausende Ausländer auf einen Flug nach Hause, viele versuchen deshalb den Landweg nach Ras al-Dschadir und in die tunesische Grenzstadt Ben Guerdane. Dort haben die Armee und verschiedene Hilfsorganisationen Zelte errichtet, um die ankommenden Verwundeten zu versorgen.

Der lokale tunesische "Revolutionsrat" hat ein Auffanglager eingerichtet und organisiert Busse, um die Flüchtlinge von der Grenze in die Stadt zu bringen.

Der tunesische Staat, kritisieren die Menschen hier, habe viel zu spät reagiert, also hätten sie die Sache selbst in die Hand genommen.