Europas VersäumnisStatt demokratische Kräfte in Tunesien und Algerien zu stützen, schweigt die EU

In Tunesien und in Algerien rebelliert die Jugend gegen Regime, die ihre Länder seit Jahrzehnten misslich bewirtschaften. Die Ursachen der Revolten sind ähnlich: In Algerien regiert der 73-jährige Präsident Abdelaziz Bouteflika seit 1999. In Europa gilt er als das kleinere Übel gegenüber den Islamisten, die nur durch das Militär von der Macht abgehalten wurden. Unter Bouteflika begann eine autoritäre "Versöhnungspolitik", die dem Land den Anschein von Stabilität beschert hat. Es gedeiht aber vor allem Korruption. In den Städten hungert die Jugend nach Perspektiven. Die Hälfte aller Algerier ist jünger als 25.

Die demografische Konstellation ist in Tunesien ähnlich brisant. Seit 23 Jahren wird das Land mit harter Hand von Zine al-Abidine Ben Ali regiert. Auch er profilierte sich als Bollwerk gegen die islamistische Bedrohung. Deshalb schwieg Europa, als er bürgerliche Freiheiten stutzte, bis es keine Opposition mehr gab. Ben Ali beschimpft Demonstranten als "Terroristen" und lässt die Polizei schießen. Zugleich verspricht er per Fernsehansprache "300 000 Arbeitsplätze". Er klingt wie ein Wüsten-Ceausescu, weit von der Realität entfernt.

Millionen junger Nordafrikaner werden sich nicht mit leeren Versprechungen abspeisen lassen. Doch von europäischen Politikern hört man nur Beschwichtigungen, die Ratlosigkeit mühsam kaschieren. Staatsminister Werner Hoyer erklärt, "nicht Gewalt, nur Dialog" könne die Lage verbessern. Hübsch gesagt, fruchtet aber wenig bei einem Regime, das erst schießt und dann monologisiert. Die Phantomzeichnung einer EU-Außenministerin, Catherine Ashton, ließ immerhin um die "Freilassung von Bloggern" bitten. Währenddessen verniedlichte der französische Kulturminister Frédéric Mitterrand: Tunesien eine Diktatur zu nennen sei "vollkommen übertrieben".

Die greisen maghrebinischen Herrscher werden ihre Völker nicht ewig in Schach halten können. Das Versäumnis Europas, demokratische Kräfte nicht rechtzeitig unterstützt zu haben, könnte sich deshalb bald bitter rächen.


Quelle: Die Welt