Original geschrieben von: Uwe Wassenberg

Meine persönliche Einschätzung ist die, dass die Chance für Tunesien noch nie so groß war, wie jetzt.
Die derzeitige Bewegung des Volkes muss noch ein paar Tage durchhalten, bis die Studenten, die bisher wegen der Weihnachtsferien auf das ganze Land verteilt sind, zurück an den Universitäten sind. Dann kann es auch in den Universitätsstädten wie Tunis zu richtig großen Demonstrationen kommen, wo mehr als nur ein paar Tausend Leute kommen.


Ich sehe (bisher) nicht, daß es "die Intelligenz" ist, die dort auf die Straße geht - jedoch sind erfolgreiche Revolutionen so gut wie immer die Bedingung dafür gewesen, denn die Mär vom armen Volk, das sich erhebt und eine Änderung herbeiführt, ist nicht wahr. Zudem ist mir aufgefallen, daß auch die Gewerkschaften, von denen es in Tunesien auch noch einige mit marxistischem Gedankengut gibt, versuchen, am Rad zu drehen.

Insgesamt glaube ich eher, daß die Proteste nach einem Einsatz der Armee mit diversen Toten zusammenbrechen werden, die Führungsschicht ist noch zu stark ökonomisch und auch personell verwurzelt. Denkbar wäre vielleicht, jetzt oder bald, ein Rücktritt zugunsten eines durch eine Neuwahl zu wählenden Familienmitgliedes.

Was aber ist die Alternative, wenn eine Revolution stattfindet? Es mangelt an geeigneten Führungsleuten, denn es gibt keine herausragenden Oppositionspolitiker, bei einer notwendigen Enteignung derzeitiger Machthaber würden große Teile der Wirtschaft ausgerissen, so ist z.B. fast die gesamte Presse, TV und Radio in Händen der Präsidentenfamilie, zudem auch ein Teil der Banken. Touristen sind nicht geneigt, in ein Land, das gerade einen unfriedlichen Regimewechsel hatte, zu reisen - und wenn sie es wären, so wären noch immer die Reiseunternehmen dazwischen, die lieber stabile Verhältnisse sehen. Und schließlich werden auch ausländische Investoren mindestens unruhig werden.

Das Land wird bei einem jetzigen unfriedlichen Regimewechsel die Leiter herunterfallen, anstatt hinaufzuklettern oder darauf stehenzubleiben, zumindest für einige Jahre. Inwieweit sich religiöse Strömungen dies zunutzemachen, bleibt abzuwarten, ist aber stark anzunehmen, wenn man die Lage des Landes betrachtet.

So sehr ein Wechsel des Regimes und politischen Systems auch zu befürworten ist, sehe ich dafür im Moment keine oder allenfalls extrem geringe, tatsächliche, Chancen, die ein positives Ende haben. Ich halte es eher für wahrscheinlich, daß in absehbarer Zeit ein weiterer "Aufstand" des Volkes das Faß zum Überlaufen bringen und erst dann die Kugel rollen wird. Was von jetzt bis dahin geschehen wird - Appeasement durch die Regierung mit scheinbarem Entgegenkommen an das Volk, Absetzbewegungen (auch physisch) einiger Mitglieder, hartes Unterdrücken des Widerstandes, bleibt abzuwarten und ist mangels einer organisierten Opposition nicht vorauszusagen - vieles geschieht derzeit aus der Dynamik des Augenblicks heraus und die vom Aufstand überraschte Regierung hat, nach einer Anlaufzeit, sicherlich die besseren, schlagkräftigeren und dauerhafteren Karten in der Hand.

Eines dürfte jedoch sicher sein: Der Tourismus und die ausländischen Investitionen werden die ersten Bereiche sein, in denen sich schon schnell negative Entwicklungen äußern werden - und es darf als ebenso sicher gelten, daß, um ein anschauliches Beispiel zu gebrauchen, die herausgedrückte Zahnpasta des Unwillens in Tunesien nicht mehr in die Tube hineinzubekommen ist.