Antwort auf:
Die Rechtsgrundlagen der Verfassung orientieren sich am französischen Recht. Die Staatsreligion ist zwar der Islam (Artikel 1), Tunesien ist aber das einzige arabische Land, das das islamische Rechtssystem Schari'a in seiner Verfassung vom 1. Juni 1959 abgeschafft hat. Lediglich Artikel 38 der tunesischen Verfassung schreibt fest, dass der Präsident ein Muslim sein muss. Im Zivilrecht finden sich nur noch wenige Teile islamischer Rechtsvorschriften. Die Frauen sind in den letzten Jahren im Familienrecht (Eheschließung, Scheidung, Sorgerecht) den Männern gleichgestellt worden.


Es gibt da eine winzige Kleinigkeit, die Gutgläubige gerne übersehen, nämlich der Nebensatz im Artikel 1 "seine Religion ist der Islam", und genau darauf wird sich in den Fällen berufen, in denen Gesetze (die ja einen niedrigeren Rang als die Verfassung haben) überprüft werden.

Und was passiert, wenn jemand sein Recht wahrnehmen will? Dann muß er vor Gericht ziehen und dort sein Recht einklagen. Und genau dort liegt der Knackpunkt, denn so gut wie sämtliche Gerichte berufen sich im Zweifelsfall auf Scharia-Rechtsschöpfung und falls die von dem säkularen Gesetz abweicht, wird ein Verstoß gegen "Brauch und Tradition" festgestellt und damit das Gesetz für diesen Fall als unzutreffend begriffen.

Daß extreme Scharia-Rechtnormen, wie Tötungen und Steinigungen, nicht angewendet werden, steht dem nicht entgegen, Scharia-Rechtsmeinungen spielen im Personenrecht nach wie vor eine erhebliche Rolle.

Hierfür gibt es diverse Beispiele (siehe Jurisite Tunisie) - es gibt sogar Weisungen des Justizministers an Gerichte (die in Tunesien nicht unabhängig sind), bestimmte säkulare Gesetze wegen des Verstoßes gegen Brauch und Tradition nicht zu beachten, besonders prominent ist hier die Angelegenheit der Heirat zwischen Muslimin und Nicht-Muslim, die vom Gesetz nicht verboten ist, aber für die man dennoch in Tunesien keine Stelle findet, die eine Trauung ausrichten und registrieren will. Selbst bei einem Gerichtsverfahren kommen nur diejenigen zum Erfolg, die besonders hartnäckig sind, den Instanzenweg ausschöpfen und auf Richter treffen, die sich zugänglich zeigen.