Original geschrieben von: Kimou
Meinst Du in Deutschland ... so und schon immer so gewesen.


Entshcildige Kimou, ich halte es für ehrenhaft, wenn Du die fahne von Tunesine hochhälst, doch was Du schreibst, enspricht einfach nicht der weiten Realität, sondern ist, ebenso wie Deutsche über "deutsche Werte" reden, eine Idealvorstellung.

Du bist nicht die einzige, die in zwei Ländern lebt, es werden hier im Forum sogar welche sein, die mehr in Tunesien gelebt, als Du. Weder die idealisierte Sicht auf Deutschland, noch die auf Tunesien helfen wirklich weiter, denn es werden, z.B. bei der Erziehung, Äpfel und Birnen verglichen.

Ich stimme beispielweise nicht damit überein, daß in Tunesien die Kinder "besser erzogen" wären - sie haben sicherlich vor ihren Eltern mehr Respekt (man beachte genau, wie ich das Wort "Respekt" genutzt habe), doch Respekt in Tuensien ist etwas anderes als Respekt in Deutschland, und einige der respektverschaffende Maßnahmen, die in Tunesien per Gesetz erlaubt sind, sind in Deutschland per Gesetz verboten. Fast sämtliche Lehrer, die ich in Tunesien kenne, und das sind mehr als nur 2 oder 3, beklagen sich gerade darüber, daß die Kinder eben nicht "respektvoll" sind, da gibt es in Deutschland ebenso viele, die dasselbe über ihre Schüler sagen.

Du hast absolut recht, was den "Bildungsstand" anbetrifft - doch der ist in Tunesien bei den Erziehungsberechtigten (also bei der ELTERNgeneration) durchschnittlich niedriger, als in Deutschland. Es gibt da auch nach wie vor viele Personen, die kaum jemals weit von ihrem Wohnort wegbewegt haben oder wegbewegen, und in der Elterngeneration gibt es noch viele An-Alphabeten. Bei der heutigen JUGEND/KINDERgeneration wird das anders aussehen, wenn die erwachsen sind, doch im Moment ist es eben definitiv noch nicht so. Wohlgemerkt, ich rede hier über den Schnitt, nicht über die sowohl in Tunesien, wie auch in Deutschland anzutreffenden hohen oder niedrigen Schichten.

Ich gebe Dir auch Recht bei Deinem Wunsch, daß Kindern Kultur und Traditon mitgegeben werden sollen - Tatsache ist es jedoch, daß weder die (durchschnittlichen) Kinder in Deutschland, noch die in Tunesien auch nur ansatzweise mit Wissen ausgestattet sind oder werden, daß man mit Fug und recht als "Kulturerbe" bezeichnet. Ich habe beispielsweise konkret noch niemanden getroffen, der mir etwa über die Geschichte Tunesiens hätte mehr sagen können, als ich mir durch Interesse bereits angeeignet habe, und das sieht auch in Deutschland so aus - abgesehen natürlich von professionellen Geschichts- oder Archäologiekundigen. So schön es also wäre, daß Kindern Kulturwissen erhalten, Fakt ist, daß dies keine wesentliche Rolle spielt, weder in Tunesien, noch in Deutschland. Und von welchen Traditionen redest Du jetzt genau? Den Berbertraditionen? Denen des Nordens? Des Südens? Arabischen Traditionen? Mahgrebinischen? Du weißt es genauso gut wie ich auch, daß es keine "tunesische Tradition" gibt, zumal das Land Tunesien noch gar nicht so sehr alt ist. as es gibt, sind regionale Traditionen, doch die gibt es auch z.B in Deutschland, und die kennen die Kinder hier ebenso wie die Kinder in Tunesien ihre eigenen.

Was die wirtschaftliche Verbesserung angeht, so gibt es nur wenige Länder, die eine so großen Kompetenzverlust wie Tunesien aufweisen (das war z.B. auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR so) - wer sich verbessern will, der kann damit ebenso im eigenen Land beginnen, doch das liegt nicht im Interesse der meisten derjenigen, die Tunesien verlassen. Wirtschafts- und Klimaflüchtlinge gab es in der Geschichte der Menschheit immer, doch das Bedürfnis zur Wirtschaftsflucht aus einem Land, in dem keine existentielle Bedrihung herrscht, ist ein Phänomen des 20./21. Jahrhunderts - da geht es also nicht um Existenzsicherung, sondern um Existenzverbesserung, und zwar unter bewußter Nutzung der Vorteile anderer Länder. Auch hier gibt es Randelemente, die positiv oder negativ herausstechen, doch die Masse, der "Durchschnitt" verhält sich eben genau so.

Weder in Deutschland, noch in Tunesien ist alles Gold, was heimatlich glänzt, und daß Deutschland und Tunesien in vielfacher Hinsicht nicht vergleichbar sind ist ebenso sicher, wie Deutschland und z.B. Norwegen, Japan oder die USA nicht vergleichbar sind, denn dazu gibt es nicht nur kulturspezifische Unterschiede und welche, die aus der Geschichte geboren sind, sondern erhebliche Unterschiede in der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur.
Man kann diese Unterschiede wegpropagandieren, doch sie bestehen dennoch weiter - und daß sich darüber auch die tuneische Intelligenz bewußt ist, zeigt sich in Medien-Kommentaren, in denen gefragt wird, warum Tunesien noch vor wneigen Jahren gleichauf mit den "Tiger"staaten lag, die nun weit vorne liegen, oder warum Marokko und Ägypten 300-500% höhere Touristeneinnahmen pro Kopf haben, oder warum Tunesien nach wie vor auf die Überweisungen der Arbeiter aus Europa angewiesen ist, die nicht weniger als knapp 20% des Bruttosozialproduktes ausmachen (zum Vergleich, der Tourismus liegt knapp über 20%). Da läuft etwas falsch im Staate Tunesien, trotz Kultur, trotz Tradition, trotz Respekt und trotz Rollenverteilung.

Es ist also ein wenig mehr Abstand geboten, und auch Kritik am eigenen Haus und am eigenen Bruder. Gewiß, nicht alles, was "Deutschland" für gut und richtig hält, ist auch gut und richtig - doch dasselbe trifft eben auf Tunesien ebenso zu und genauso, wie sich auch Deutsche und Angehörige aller Nationen ständig hinterfragen müssen, um auf der Leiter der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Evolution weiter aufzusteigen, muß dies auch Tunesien tun. Und das geht am besten, wenn man sich etwas zurücklehnt, um aus einer größeren Distanz auch einen größeren Blickwinkel zu erreichen. :-)