In der Affäre Ghadhafi liegt der Ball in Genf
Die kantonalen Justizbehörden suchen eine Lösung
Für das Strafverfahren gegen das Ehepaar Ghadhafi ist die Genfer Justiz zuständig. Es wird nach Möglichkeiten zu dessen Einstellung gesucht, speziell aufgrund einer Vereinbarung der Parteien. mri. Genf, 8. August
Die Affäre Ghadhafi hat in diesen Tagen die Westschweizer Medien beschäftigt. «Bern fasst eine Entschuldigung ins Auge», titelte «Le Matin». «Aller Augen sind auf (Generalstaatsanwalt) Daniel Zappelli gerichtet», schrieb «Le Courier», während «Le Temps» beruhigend festhielt, die Krise mit Tripolis verschärfe sich nicht, bloss weil sie andaure. Nach Angaben des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ist die Genfer Justiz allein für das Verfahren gegen Motassim Bilal (Hannibal) Ghadhafi und seine Frau Aline zuständig. Das Ehepaar war am 15. Juli im Genfer Luxushotel «Président Wilson» festgenommen und während zweier Tage in Polizeigewahrsam festgehalten worden. Ihnen werden einfache Körperverletzung, Drohung und Nötigung von zwei Hausangestellten aus Tunesien und Marokko vorgeworfen. Gegen eine Kaution von einer halben Million Franken wurde das Ehepaar Ghadhafi freigelassen und reiste nach Libyen zurück. Inzwischen hat Libyen von der Schweiz eine Einstellung des Verfahrens sowie eine Entschuldigung für die Art und Weise der Festnahme verlangt.
Verfahrenseinstellung rechtlich möglichEine Einstellung des Strafverfahrens gegen das Ehepaar Ghadhafi wäre rechtlich möglich. Denn das Genfer Strafprozessrecht kennt ein formell unbeschränktes Opportunitätsprinzip, wie der emeritierte Freiburger Strafrechtsprofessor Franz Riklin gegenüber der SDA sagte. Der Genfer Staatsanwalt Zappelli, der zurzeit in den Ferien weilt, könnte demnach das Verfahren unter Hinweis auf höhere Interessen der Schweiz einstellen, und dies gilt selbst für den Fall eines Offizialdelikts wie Nötigung. Derzeit ist das Dossier jedoch bei Untersuchungsrichter Michel-Alexandre Graber, der das Verfahren in aller Unabhängigkeit fortsetzen will, wie er dem «Illustré» sagte.
Zu der Festnahme gibt es in Genf unterschiedliche Auffassungen. Es bestehe kein Anlass, dass sich die Schweiz oder der Kanton Genf bei Libyen entschuldigten, betont der Genfer SP-Nationalrat und Anwalt Carlo Sommaruga auf Anfrage. Das Gesetz sei eingehalten worden, und die Polizei habe die Festnahme des Ehepaars in einer Art und Weise vorgenommen, die die Sicherheit aller Beteiligten gewährleistet habe. Weder der Polizei noch dem Untersuchungsrichter oder dem Staatsanwalt seien Vorwürfe zu machen. Es habe einen Gesetzesverstoss des Ehepaars Ghadhafi gegeben, und man habe gewusst, dass die physische Integrität der Hausangestellten verletzt worden war. Das Ehepaar hätte möglicherweise einer Vorladung zur Einvernahme nicht Folge geleistet, daher sei die Festnahme nötig gewesen.
Gütliche Einigung als PerspektiveSommaruga verwies auf einen ähnlichen Fall in Brüssel. Dort waren Anfang Juli in einem Hotel sieben Mitglieder der Familie eines Emirs der Vereinigten Arabischen Emirate vorübergehend festgenommen und wegen Menschenhandels mit ihren Hausangestellten angeklagt worden, ohne dass es zu einer diplomatischen Krise gekommen wäre. Sommaruga nimmt nicht an, dass Staatsanwalt Zappelli das Verfahren aufgrund des Opportunitätsprinzips einstellt. Das wäre ein schlechtes Signal, denn vor dem Gesetz seien alle gleich. Es habe Beweise für die Misshandlung der Hausangestellten gegeben. Ausserdem könnten diese gegen eine Einstellung des Verfahrens Rekurs einreichen. Die Affäre könne jedoch durch eine Einigung der Parteien beigelegt werden, wonach die Bediensteten entschädigt würden und der Schutz ihrer Angehörigen in Libyen sichergestellt würde. Bei einer Einigung könne der Staatsanwalt auch das Verfahren wegen Nötigung einstellen.
Auch für den liberalen Genfer Nationalrat und Anwalt Christian Lüscher wäre eine Einigung der Parteien unter Entschädigung der Hausangestellten die eleganteste Lösung, wie er auf Anfrage sagte. Ebenso lehnt er die Einstellung des Strafverfahrens aufgrund des Opportunitätsprinzips ab. Das Vorgehen der Genfer Justiz hingegen habe eine Katastrophe angekündigt, kritisiert er. Die Justizbehörden seien zwar unabhängig, hätten jedoch die internationalen Beziehungen berücksichtigen müssen, indem sie dem Ehepaar eine Vorladung zur Einvernahme geschickt und gleichzeitig auf diplomatischem Weg bei der libyschen Botschaft auf das inakzeptable Verhalten des Sohnes von Staatschef Muammar Ghadhafi hingewiesen hätten.
Der Anwalt der Hausangestellten, François Membrez, wies darauf hin, dass er noch keine Bestätigung für eine Freilassung des Bruders und der Mutter des Marokkaners erhalten habe, die in Libyen im Gefängnis seien. Solange die Angehörigen des Marokkaners in Gefahr seien, stehe es ausser Frage, dass seine Klienten die Klage zurückzögen.
Quelle: NZZ
http://www.nzz.ch/nachrichten/schweiz/in_der_affaere_ghadhafi_liegt_der_ball_in_genf_1.802412.html