Tunesien braucht dringend demokratische Verhältnisse
Gesendet von: "NZZ_8.6.08" NZZ_8.6.08
Mit 18. Juni 2008 23:46

**Saïda Keller-Messahli (*)**

Tunesien gehört zum Maghreb - das heisst: zum Westen. Doch der herrschende Regierungs-Clan verwandelt das Land in einen islamischen Polizeistaat, schreibt Saïda Keller-Messahli

Tunesien ist ein Land des Maghreb (arabisch: Westen). Man könnte meinen, jenseits des Mittelmeers, einer anderen Kultur zugehörig. Doch gerade als eines der maghrebinischen Länder gehört es auch zu jenem gemeinsamen Raum, den Bourdieu beschrieben hat: zum Mittelmeerraum. Dieser war schon immer ein Teil der europäischen Geschichte. Von der Antike bis heute.

Tunesien hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, und diese Veränderungen müssen wir zur Kenntnis nehmen. Sie erschrecken.

Als gebürtige Tunesierin reise ich oft dorthin, um meine Verwandten zu besuchen, und ich kenne das Land von innen her. Ein Besuch dieser Tage erweckte den Eindruck, das Land rücke von den eigenen Grundwerten ab, die es in den sechziger und siebziger Jahren geprägt hatten. Ich habe es als ein islamisch-pragmatisches, tolerantes Land gekannt. Heute scheint mir, eine entwürdigende Gier sei an die Stelle alter Werte getreten und widerspiegle die Gepflogenheiten des regierenden Clans im Umgang mit seinen Bürgern. Dies schafft ein Klima von gegenseitigem Misstrauen und Ressentiments, weit entfernt von den Lebenswelten des alten, bäuerlichen Landes und seiner Kultur, seinen Werten, die nur noch beschworen, aber nicht mehr geachtet werden.

Noch heute gilt die Regierung für westliche Besucher als gemässigt; und diese gibt sich nach aussen auch tatsächlich liberal. Doch erschreckend viele Stimmen äussern im Land anderes. «Wo sind unsere Intellektuellen?», fragt mich ein einfacher Mann und antwortet gleich selbst: «Sie sind gekauft und somit zum Schweigen gezwungen.» Und er doppelt aufgeregt nach: «Hast du Verbindungen mit dem Ben-Ali-Clan, lebst du wie ein König: ausserhalb des Gesetzes, mit allem, was du dir wünschst. Bist du mit dem Clan nicht verbunden, kannst du dich zu Tode schuften, ohne je normal leben zu können.»

Grosse Unruhe und Unzufriedenheit prägen die Stimmung im Land, nach aussen dringt nichts davon. Zwischen dem Dorf Metlaoui und der Stadt Gafsa werden wir von einer Gruppe Polizisten angehalten, kontrolliert und an der Weiterfahrt gehindert. Seit Monaten herrscht hier Unruhe, Arbeiter streiken, es gibt gewaltbereite Jugendliche. Der Polizist kann seine Sympathie mit den Streikenden nicht verbergen. Er habe die Anweisung, keine Touristen durchzulassen. Von den Unruhen soll niemand draussen erfahren. In Tunis[100] höre ich dazu den Kommentar einer jungen Frau aus betuchten Verhältnissen: «Die von Gafsa stiften immer wieder Unruhe.»

Früher nahmen Regimevertreter gerne ein Bad in der Menge. Heute ist das nicht mehr denkbar: Beim Besuch des Staatspräsidenten Frankreichs - zeitgleich mit unserem Besuch - wurden in der Altstadt von Tunis[100] der Souk geleert und alle wichtigen Verbindungsstrassen zur Hauptstadt gesperrt. Der illegitime Präsident entfernt seine Bürger, wenn er einen Gast empfängt. Am Fernsehen sieht man Bilder vom gespenstisch entleerten Markt, und in jedem Laden steht anstatt des üblichen Durcheinanders je ein einsamer bewaffneter Polizist, der nach aussen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln soll.

Im persönlichen Gespräch distanzieren sich die Bürger ganz offen vom Präsidenten. Zwei Studentinnen in einem Vorort von Tunis[100] beklagen sich, sie könnten «sein» Bild an Gebäuden und Fernsehen nicht mehr ertragen. Ihre Reaktion ist typisch. Die Jugend träumt davon, ab ins Ausland zu fahren und frei leben zu können.

Jene, die im Land bleiben, wählen eine andere Form von Exil. Nie sah ich in den Strassen von Tunis[100] so viele verschleierte Frauen. Es geht nicht um das Kopftuch, solches sah man auch früher oft, sondern um die abweisende, schwarze, integrale Körperverhüllung, wie man sie von Saudiarabien her kennt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Tunesien und vielleicht der Maghreb insgesamt abdriftet. Weltoffenheit ist nur in Form von Kleidung und Konsumismus simuliert, die Nähe zu Europa ist oberflächlich, das Wissen über Europa erschreckend abwesend. Ein gegen die Bevölkerung politisierender Polizeistaat begünstigt die Hinwendung zu rückwärtsgewandten islamistischen Werten.

Im Innern der Menschen macht sich Bedrängnis und Bedrückung breit. Sie fühlen sich eingeklemmt zwischen einerseits den islamischen Erwartungen der Gesellschaft und deren Vorstellungen von Tradition, anderseits dem politischen Klima eines Polizeistaates, das keinen Raum für individuelle Artikulierung zulässt. Es wundert kaum, dass in dieser Atmosphäre der Angst, der schamlosen Bereicherung einiger weniger und der dafür notwendigen brutalen Repression das innere Exil als einzige Perspektive bleibt.

Tunesien braucht dringend demokratische Verhältnisse - die Menschen rufen danach. Europa braucht einen demokratischen Maghreb. Es wäre ein Zeichen der Solidarität, wenn hier in Europa offen über die dortige politische Situation berichtet würde. Dort am schönen Strand liegen und sich vom orientalischen Phantasma leiten lassen, ist leider nicht genug.

Saïda Keller-Messahli, 50, ist Präsidentin des «Forums für einen fortschrittlichen Islam», der sich als Reformkraftin der Islamdebatte versteht. Sie war u. a. als internationale Beobachterin in Hebron, als Journalistin und als Gymnasiallehrerin tätig. Die gebürtige Tunesierin kam mit 8 Jahren in die Schweiz, wo sie seither lebt und deren Staatsbürgerschaft sie besitzt. Der Text entstand nach ihrer letzten Tunesien-Reise im Mai.

(Source: « NZZ am Sonntag » 8 Juni 2008)