...und hier kommt mir wieder die Ellenbogengesellschaft in den Sinn. Ich sehe das in Tunesien auf alle Fälle nicht so ausgeprägt wie in D...

Nein, die ist nachmeiner Anschauung in Tunesien noch viel mehr ausgeprägt, als in Deutschland. Freilich - es hängt da auch von Einzelumständen ab, ebenso, wenn Du schreibst, daß Du in Tunis leben willst. Tunis ist nur bedingt "Tunesien", in Tunis ist vieles anders als in Rest-Tunesien und manches gar genauso, wie in einer europäischen Großstadt. Ich beziehe mich andererseits auch gerne als Vergleich auf das Leben im Ruhrgebiet - und ebenso, wie Tunis nicht typisch für "Tunesien" ist, ist das Ruhrgebiet nicht typisch für "Deutschland". Insofern wird also der persönliche Blick stets dadurch geprägt, wo und wie man in Deutschland - und wo und wie man in Tunesien lebt. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man aus dem Ruhrgebiet nach Tunis zieht, oder aus dem Bayerischen Wald nach Kasserine, oder gar die andere Kombination, um einmal Extreme gegeneinanderzustellen.

...Geniesst Du es nicht ab und zu???

Das ist eine sehr schwere Frage, weil es auch hier wieder auf die Einzelumstände (z.B. Freunde, Familie, Arbeitsstelle, etc.) ankommt. Doch blende ich einmal spezielle Bedingungen aus, dann macht es für mich nicht sehr viel Unterschied - ich liebe den Winter ebenso wie den Sommer, das tunesische Nahkampffahren ebenso wie 250 km/h auf deutschen Autobahnen, den touristischen "Narrenschein" ebenso wie deutsche Berechenbarkeit, das permanente kreative Reparieren ebenso wie deutsche Gründlichkeit, das "Auffallen" dort ebenso wie die Anonymität hier, um ein paar Stichworte zu nennen. Hinzu kommen dann als Mann natürlich noch die "geschlechtsspezifischen" und als Nicht-Tunesier die "Touristen"-Vorteile, die man dort genießt und die allerlei negative Dinge aufwiegen. Dennoch: objektiv betrachtet, ist es eher ein zweites Leben, in das man sich bei Bedarf hineinbegeben, doch das man jederzeit auch wieder verlassen kann, so etwa, wie als ob man als Student übers Semester ein "Studentenleben" führt und in den Ferien wieder "zu Hause" ist. Es ist aber auch ein nomadischen Leben, für das nicht jeder geschaffen ist, denn am Ende fühlt man sich an beiden Plätzen zu Hause - oder an beiden Plätzen nur noch als temporärer Gast.

...Was würde ich drum geben...

Probiere es einfach einmal für 1 Jahr, oder für 2, aus. Ich bin vor etwa zwei Jahren mit vielen romantischen, idealistischen Vorstellungen nach Tunesien gegangen und die vorgefundene Realität hat vieles davon zunichte gemacht - denn solange man nur als "Gast" dort ist und sich nicht dem täglichen Leben stellen muß, geht man über alles Negative hinweg oder man will es überhaupt gar nicht erst wahrnehmen, doch wenn wenn man sich damit auseinandersetzen muß, weil es gar nicht anders geht, dann kann man nicht mehr so einfach die Augen verschließen und eine Situation "aussitzen". Je mehr man "Einwohner" wird, umso mehr wird man auch von der Umwelt als solcher verhandelt und verliert seinen "Fremdenbonus" (Narrenschein trifft es besser)- und was noch viel bedeutsamer ist, umso mehr gleich man auch sein Handeln und Denken der Umwelt an, und speziell dies ist etwas, was nicht jeder kann oder will, denn es bedeutet auch, einen Teil seiner Lebens-Identität aufzugeben, und dies wird umso unmöglicher, je älter/erfahrener/gebildeter man ist.

Es ist ein Unterschied, ob man auf einer Gesellschaft "schwimmen" kann und nur dann eintaucht, wann und solange man es will - oder ob man eintauchen MUSS, und gerade dieser Punkt ist es, mit dem sich nach meiner Einschätzung viele, wenn nicht gar alle, potentiellen "Auswanderer" nicht genügend auseinandersetzen. Sie brechen alle Brücken hinter sich ab und bringen sich damit selbst in die Situation, in der sie eintauchen MÜSSEN ... und dann entweder tauchen können, oder ertrinken, und das Resultat "ertrinken" kommt dann ungleich häufiger vor, als das andere.