Interessantes Thema, fürwahr. Ich denke aber auch, aus langjährigen Erfahrungen mit "Auswanderern" verschiedenster Nationen, dass es sich da nicht so sehr um ein tunesisches Phänomen handelt.
In vielen sogenannten Dritt-Ländern ist das Bild von Europa das, welches durch Fernsehen und Touristen geprägt wird. Touristen - logisch - sind im Regelfalle schon mal keine Menschen, die am Hungertuch nagen, dann würden sie ja nicht reisen können. Und das Fernsehen... man schaut sich nicht unbedingt die Tagesschau mit den neuesten Arbeitslosenzahlen, den Verschlechterungen durch die x-te Gesundheitsreform, den Einschnitten im Sozialsystem an, sondern eher die schöne bunte Welt à la GZSZ, wo das schlimmste Problem im Leben im Regelfalle ja ungefähr darin besteht, dass die Freundin einen verlässt oder man sich Kaffee auf die Boss-Jeans gekleckert hat... Wo die Menschen in Nike-Turnschuhen mit dem Cabrio im Kaffee vorfahren. Oder hat man da irgendwo schon mal einen gebrochen deutsch sprechenden Leiharbeiter durch's Bild huschen sehen? Kurz - es ist eine absolut illusionäre Welt, von der der kleine, künftige Migrant da träumt. Und die Sippe träumt kräftig mit.
Nehmen wir nun mal an, es gelingt ihm, in das gelobte Land zu entkommen - schon ist er der, der auszog, das Glück zu finden. Bald nach seiner Ankunft wird er aber meist unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und stellt fest, dass er wohl eher der ist, der auszog, das Fürchten zu lernen. Er scheitert mehr oder weniger, das Paradies ist so gar nicht paradiesisch, weder Stereo-Anlagen noch Markenklamotten wachsen auf den Bäumen, Autos sind unverschämt teuer und selbst der tägliche Besuch im arabischen Kaffee sprengt in vielen Fällen schon den finanziellen Rahmen...
Und ich denke mal, da setzt es ein, dieses Phänomen, was m.E. zu einem Mentalitätspunkt zugeordnet ist, dass wir hier auch schon öfter diskutiert haben - der berühmt-berüchtigte Gesichtsverlust. Denn genau der würde eintreten, wenn man eingestehen müsste, dass man eben nicht mein Haus, meine Yacht, mein 5er-BMW erreicht hat, sondern sich irgendwo, über eine Zeitarbeitsfirma vermittelt, als Hilfsarbeiter verdingt, nur zu oft auch noch behandelt wie der letzte Dreck. Wie stünde der bei seinem Auszug doch so stolze Migrant, der für die Familie plötzlich zum Sinnbild des baldigen Wohlstandes und Fortschritts mutiert war, da, wenn er zugäbe, dass er mehr schlecht als recht sein Auskommen gefunden hat und beileibe nicht Alles, ja nicht mal 10% von dem, was da so glänzte, Gold ist?
Also beginnt er, die Scheinwelt, in die er einst auswanderte, zumindest für die Daheimgebliebenen aufrecht zu erhalten. Er will gar nicht so sehr angeben - er muss nur irgendwie ja den in ihn gesetzten Erwartungen gerecht werden, also muss er lügen, dass sich die Balken biegen denn sonst - wäre er da, der Megaalbtraum Gesichtsverlust. Und wenn man mal ganz nüchtern darauf schaut - Gesichtsverlust ist doch etwas, wovor eigentlich so ziemlich alle Männer, egal welcher Nation, eine Heidenangst haben. Klar, der heimaturlaubende Tunesier hat die vergleichsweise einfache Lösung parat, einfach für ein paar Wochen den dicken Max zu machen und alle zu blenden, aber es gibt doch auch z.B. deutsche Männer, die ihren Familien oft monatelang vorspielen, dass sie ganz normal morgens zur Arbeit gehen, obwohl sie schon lange arbeitslos sind. Oder ganz banales Beispiel - die farbenprächtigen Schilderungen, wie toll doch das heimische Liebesleben sich gestaltet (wird wohl so ziemlich Jeder schon mal in der einen oder anderen Form irgendwo mitgehört haben)... Fragt man die passenden Ehefrauen, sind das Geschichten, da würde ein Münchhausen vor Neid über soviel Lügentalent vor Neid erblassen.

Kurz und knapp - ich glaube, diese Angeberei ist nicht zum Zwecke des Protzens oder Beeindruckens entstanden, es ist ein Tarnmechanismus für die typische männliche (nicht aufregen, meine wenigen hier lesenden Herren - Anwesende sind natürlich ausgenommen ) Unfähigkeit, Versagen, egal in welcher Form, eingestehen zu können. Und dazu muss man nicht zwingend Tunesier sein. Aber wie überall im Leben, bestätigen hier natürlich die Ausnahmen wie immer die Regel.

Hobbypsychologisierender Gruß
Susanne


من حفر حفرة لاخية وقع فيها
سوزانه