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Rechtspolitischer Kongress der Friedrich- Ebert- Stiftung
Kongressberichterstattung



Festvortrag: Das juristische Erbe des Islams in der Moderne
Offenbarte Normen, staatliche Gesetze und globales Recht


Prof. Dr. Baber Johansen,
Directeur d'études, Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris



I. Die Voraussetzungen globaler Rechtsformen in einem heiligen Recht

1. Die Form und die Quellen des Rechts

Das islamische Recht ist ein Juristenrecht:
nicht ein staatlicher Gesetzgeber, sondern die gelehrten Juristen entwickeln seine Normen.
Die Normsetzungsbefugnis der Herrscher ist eingeschränkt - zumindest seit dem 9. Jahrhundert - auf Massnahmen, die der politischen Führung im Rahmen ihrer Lenkungs- und Steuerungskompetenz zufallen.
Politische Entscheidungen über Krieg und Frieden, der Schutz der Grenzen, die Überwachung der öffentlichen Plätze und Verbindungswege, die Steuereinziehung und die Verfolgung von Straftaten, die in den Doktrinen der islamischen Juristen nicht qualifiziert sind, gelten als Massnahmen, zu deren Durchführung das heilige Recht der Juristen die politische Führung berechtigt.
Diese " politischen Regulierungsmassnahmen " (siyasa) sind jederzeit veränderlich und ausschliesslich funktional legitimierbar.
Ihr Geltungsanspruch überdauert nur dann den Herrscher, der sie erlassen hat, wenn sein Nachfolger sie bekräftigt.
Die Mitglieder des politischen Gemeinwesens sind verpflichtet, diesen Regulierungsmassnahmen zu gehorchen, aber nicht dazu, an ihre Richtigkeit oder ihre religiöse Verbindlichkeit zu glauben.
Unter der Dynastie der Osmanen, die vom 14. bis zum 20. Jahrhundert zuerst Anatolien, dann den Balkan und schliesslich den grössten Teil der arabischen Welt beherrscht, findet die Trennung zwischen den " politischen Regulierungsmassnahmen " und den islamrechtlichen Bestimmungen nicht nur einen klaren theoretischen, sondern auch praktischen Ausdruck.
Das vom Sultan für die Provinzen des Reichs in eigenen Büchern festgehaltene Steuer- und Strafrecht wird als sein qÁnÙn, seine rechtmässige Regulierung anerkannt.
Die qadis, die Richter, die die islamrechtlichen Bestimmungen anwenden, sind auch gehalten, nach dem qÁnÙn Recht zu sprechen.

Mit andern Worten, die politische Obrigkeit ist zuständig für politische Regulierungen, für Herrschaftsausübung und für die Organisation der Rechtsprechung.
Sie ist nicht zuständig für die Gesetzgebung.
Die Norm des Herrschers, die politisch gesatzte Norm erscheint nirgends als Quelle der islamrechtlichen Bestimmungen.
Die Rechtsquellenlehre trennt so eindeutig staatlich gesetzte Ordnungsmassnahmen vom an die Offenbarung gebundenen Juristenrecht.

Das heilige Recht (shari'a) wird von den Juristen aus drei Quellen abgeleitet, die alle drei Offenbarungsrang haben.
Es sind dies erstens der Koran, Gottes Wort, zweitens die sunna, die normative Praxis des Propheten in Wort und Tat, durch die Gottes Botschaft verbindlich interpretiert wird und drittens - spätestens seit dem 10. Jahrhhundert - der consensus (idschmaa) der gelehrten Juristen.
Als vierte Quelle der Normen des heiligen Rechts gilt die Methode des Analogieschlusses (qiyas).
Zum Analogieschluss treten andere Methoden der Rechtsfindung, die nicht als Rechtsquellen gelten, sondern als zulässige Methoden der Argumentation und der Rechtsfindung.
Die wichtigste ist zweifellos die der " individuellen Bemühung um die Feststellung der richtigen Norm " (idschtihad).
Diese Methode erlaubt es den Juristen, neue Normen durch individuelle Vernunftanstrengungen zu begründen.
Diese Rechtsquellen und Rechtfindungsmethoden finden sich in der juristischen Literatur, die in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts und im 9. Jahrhundert in den Städten des Irak, des Hedschaz, Syriens und Ägyptens entsteht.

Die Juristen des Heiligen Rechts unterscheiden zwischen den Offenbarungsgrundlagen des Rechts, der shari'a, und den juristischen Qualifikationen von Handlungen und Institutionen, die aus diesen Offenbarungsgrundlagen durch menschliche - und daher fehlbare - Anstrengungen abgeleitet sind.
Sie trennen auch zwischen dem Recht als religiöser Norm einerseits und den Regulierungsmassnahmen der politischen Herrscher, die diese als Teil ihrer Leitungs- und Steuerungskompetenz wahrnehmen.
Der Begriff der shari'a verweist also zum einen auf die unfehlbaren Offenbarungsgrundlagen der von den Juristen erarbeiteten islamrechtlichen Normen, zum anderen auf den offenen Prozess mit stets ungewissem Ausgang, in dem aus diesen Offenbarungsreferenzen durch die Vernunftanstrengungen von Juristen Normen zu finden und zu formulieren sind, die dann kontrovers zwischen den Juristen diskutiert werden.
Diesen Prozess der Normenfindung nenne ich die islamische Normativität.
Ich grenze ihn ab gegen die Summe der so gewonnenen Normen und der sie stützenden Argumentationen, die in der Rechtswissenschaft, dem fiqh, von den einzelnen Rechtsschulen rezipiert, dokumentiert und zur Schuldoktrin erhoben wird.
Diese Normen nenne ich die islamrechtlichen Bestimmungen.
Beide sind deutlich abgegrenzt gegen die politischen Regulierungsmassnahmen.

Die Juristen produzieren einen Überschuss an konfligierenden Lehrmeinungen zu jeder Frage und aus diesem Reichtum einander widersprechender Lehrmeinungen wählen die juristischen Autoren und Lehrer die aus, die ihnen am einsichtigsten sind.
Es gibt keine Institution, die in letzter Instanz für alle Juristen entscheiden kann, welche Norm rechtens ist.
Die Autorität der Rechtsnormen bleibt, im Prinzip, an die personale Autorität der Juristen gebunden.
Hier setzt die spezifische Funktion der Rechtsschulen ein: sie wählen Lehrmeinungen aus, deren Autorität im Rahmen der Schule anerkannt wird.
Sie lehren solche Doktrinen und stabilisieren sie durch ihre Weitergabe, so dass die Kontinuität des juristischen Denkens gewährleistet ist.
Sie begrenzen zugleich die Kompetenz des einzelnen Juristen zur freien Rechtsfindung

Allein im sunnitischen Islam, d.h. in der Form des Islam, die in der sunna, der normativen Lebenspraxis des Propheten, die Grundlage zum Verständnis des Koran und der islamischen Normativität sieht, überleben vier Rechtsschulen bis ins zwanzigste Jahrhundert.
Diese Schulen breiten sich von der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts an in der ganzen islamischen Welt aus.
Ihr Einzugsgebiet reicht in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts von Indien über Zentralasien, den Nahen Osten, bis zum Maghrib und dem islamischen Spanien, später dehnt es sich auf Afrika, das heutige Indonesien, Malaysia und den Balkan aus.
In diesem plurikulturellen Rahmen sind die Normen der einzelnen Rechtsschulen über viele Jahrhunderte wirksam geworden.
In vielen dieser Regionen nehmen sie bis heute Einfluss auf die Gestaltung des staatlich gesetzten Rechts.

2. Die Natur des Menschen

Inwieweit haben die Juristen des Islam die Idee eines globalen Rechts konzipiert, legitimiert oder vorbereitet ?
Haben sie Voraussetzungen geschaffen, auf die in der heutigen Diskussion um die Möglichkeiten globalen Rechts zurückgegriffen werden kann?
Inwieweit blockieren oder fördern die Figuren des klassischen juristischen Denkens, wie es in der Zeit zwischen dem 8.- 12. Jahrhundert u.Z. entsteht, heute die Akzeptanz des Idee eines globalen Rechts ?
Es geht im Rahmen dieses Vortrags nicht darum, solche Fragen erschöpfend zu beantworten, sondern nur auf die Faktoren hinzuweisen, die für ihre Diskussion wichtig sind.

Zu den Voraussetzungen globalen Rechts gehört ein Konzept der Gleichheit der Menschen.
Ein solches Konzept setzt, zumindest für die Zeit vor der französischen Revolution, nicht die Rechtsgleichheit der Individuen voraus, wohl aber ihre Fähigkeit, Empfindungen, Erkenntnisse und Bewusstsein zu teilen und darüber miteinander zu kommunizieren.
Die römische Stoa entwickelt auf der Basis eines solchen Konzepts der Gleichheit der menschlichen Natur ihre Vorstellungen von einem universalen und für alle Menschen geltenden Naturrecht.
Von anderen Voraussetzungen ausgehend tun das auch die muslimischen Theologen und Juristen des 9.- 13. Jahrhunderts.

Im Zentrum ihrer Diskussion steht die universale Geltung von Gottes Wort.
Die Frage ist, ob seine Geltung entsprechend den Konventionen der Sprache und den Bedingungen, unter denen ihre Sprecher sich äussern, verstanden werden muss oder ob Gottes Wort als Teil der Essenz Gottes eine universal gleiche Bedeutung und einen universal gleichen Geltungsanspruch hat.
Im letzteren Falle formt es Teil eines inneren Diskurses, der allen Konventionen, die seine Verkündung in Wort und Schrift regeln, vorausgeht.
In Analogie zu dieser Annahme gehen die Theologen auch davon aus, dass alle Menschen die in ihren Sprachen und Sprechakten formulierten Bedeutungen zuerst in einem psychischen Diskurs formulieren, auf den Konvention und Kultur keinen Einfluss haben.
Die muslimischen Juristen haben aus dieser Doktrin die Schlussfolgerung gezogen, dass alle Menschen die gleichen psychischen und intellektuellen Leistungen in gleicher Weise vollbringen und dass die zwischen ihnen bestehenden sprachlichen und kulturellen Differenzen sie nicht daran hindern, die gleichen Wahrheiten zu erkennen und den gleichen Normen zu folgen.
Ich zitiere einen führenden muslimischen Juristen Kairos des 13. Jahrhunderts :
" Die Konventionen spielen keine Rolle im psychischen Bereich, sondern nur in den Worten. Bei allen Nationen, Arabern und Nicht-Arabern und den Sprechern aller Sprachen sind alle Typen der Diskurse sich gleich. Weder die Unterschiede in den Sprachen noch in den Bedingungen [unter denen die Sprecher leben] machen sie unterschiedlich. Gleichermassen finden sich alle Typen von Glaubensvorstellungen, Zweifeln und Annahmen und alle psychischen Zustände bei allen Nationen in identischer Weise und kennen keine Unterschiede. Das liegt nicht an [äusseren] Gründen. Vielmehr ist es ihre Essenz, die ausschliesst, dass sie verschieden seien, selbst wenn sie alle nur durch die Macht Gottes, er ist erhaben, existieren. "
Alle Menschen haben also die gleiche psychische Natur.
Das erlaubt ihnen, sich zu verständigen, die Wahrheit zu erkennen und in unterschiedlichen Sprachen die gleichen Wahrheiten und Normen auszudrücken.

3. Eine Rechtsordnung für alle Menschen oder nur für Monotheisten?

Ein Recht mit universalem Geltungsanspruch ist also denkbar.
Es beruht auf dem universalen Charakter des Wortes Gottes und ist an alle Menschen gerichtet.
Im Prinzip sind auch Nicht- Muslime die Adressaten dieses Gesetzes und gehalten, ihm zu folgen.
Christen und Juden und Zoroasthrier sind keineswegs die einzigen Nicht- Muslime, die als Untertanen einer muslimischen Obrigkeit zu akzeptieren sind.
Zwar behauptet das fast die gesamte moderne Sekundärliteratur, es ist aber schlicht falsch.
Die beiden ältesten sunnitischen Rechtsschulen, die Hanafiten und die Malikiten, die beide im 8. Jahrhundert entstehen und früh zu vorherrschenden Rechtsschulen in grossen muslimischen Reichen werden, haben stets auch Polytheisten und Götzenanbeter als legitime Untertanen einer muslimischen Obrigkeit zugelassen, solange sie bereit waren, sich einer muslimischen Obrigkeit zu unterwerfen, die Normen des Islamrechts zu befolgen, die speziell den Nicht- Muslimen auferlegten Steuern zu zahlen und sich einer Reihe diskriminierender Vorschriften zu unterwerfen, die für Nicht- Muslime galten.
Erst im 9. Jahrhundert haben die Juristen der schafiitischen und hanbalitischen Schule die Forderung aufgestellt, dass die ins islamische Gemeinwesen zu integrierenden Personen Monotheisten sein müssen.
Sie haben damit ein religiöses Auswahlkriterium an die Stelle eines politischen gesetzt und so den universellen Charakter des islamischen Gemeinwesens und des islamischen Rechts ganz erheblich eingeschränkt.
Das religiöse Auswahlkriterium ist aber selbst in diesen Schulen nicht ohne Widerspruch geblieben.
Die hanbalitischen Juristen überliefern als Meinung ihres Schulgründers (aber nicht als ihre Schuldoktrin), dass der Polytheismus kein Hindernis für die Zulassung zum politischen Gemeinwesen der Muslime sei.
Noch im 18. Jahrhundert stellt der Begründer der wahhabitischen Doktrin, der religiösen Doktrin des heutigen Saudi- Arabien, in seinen Schriften die Meinung des Schulgründers der hanbalitischen Schuldoktrin in dieser Frage gegenüber (und entscheidet sich für die letztere).
Den Polytheisten lässt dieses monotheistische Zulassungskriterium nur die Wahl zwischen Konversion, Emigration oder Tod, wo das politische Kriterium Integration auch ohne Konversion ermöglicht.

4. Der universale Anspruch der Institutionen

Grundlegende islamrechtliche Konzeptionen sind von der Basis eines impliziten Gleichheitsanspruchs her definiert und nicht abhängig von Religion, Geschlecht oder Ethnie der Rechtssubjekte.
Das gilt für den Begriff der Person, der Handlungs- und Rechtsfähigkeit, des Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit und für Institutionen wie die des Eigentums.
So definieren im elften Jahrhundert die Juristen der hanafitischen Schule die juristische Persönlichkeit durch die Fähigkeit des Individuums, Rechten und Pflichten zu haben.
Diese Fähigkeit sprechen sie allen Menschen zu, die lebend geboren werden.
Nur die Sklaverei könne diese Fähigkeit schwächen.
Alle freien Personen haben dagegen, so lehren die Hanafiten, von Geburt an Anspruch auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Eigentümerstatus unbeschadet ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Bindungen, ihres Alters und ihres Geisteszustands, solange sie nur Mitglieder des politischen Gemeinwesens der Muslime seien.
Dieser Personenbegriff steht in seinem universalen Anspruch dem des europäischen Rechts des 16. Jahrhunderts nicht nach.
Gleiches liesse sich für die Institution des Eigentums ausführen: die hanafitischen Juristen des 11. und 12. Jahrhunderts insistieren nachdrücklich darauf, dass der Mensch von Gott als Eigentümer geschaffen sei und dass der Sklavenstatus, der den Menschen zum Eigentum mache, nie mehr sei als eine akzidentelle und jederzeit aufhebbare Ausserkraftsetzung seines natürlichen Zustands.
Das Eigentum als subjektives Recht dient in den Doktrinen der muslimischen Juristen des 11. und 12. Jahrhunderts als wichtige Kategorie zur Konstruktion und Rechtfertigung von Rechtsansprüchen.
Die prozessuale Absicherung der Streitparteien, die ihre Konflikte vor dem qadis austragen, führt zu einem gewaltfreien Streit- und Verhandlungsraum, in dem kontradiktorische Ansprüche und Behauptungen glaubhaft gemacht werden können.
Die Justiz sichert diesen gewaltfreien Raum durch ein Folterverbot, das bis ins 14. Jahrhundert herrschende Doktrin der meisten Rechtsschulen bleibt.
Die Juristen begründen dieses Folterverbot mit dem Hinweis darauf, dass das menschliche Wort das wichtigste Beweismittel sei, dass es aber jede Glaubwürdigkeit verliere, wenn der Sprecher unter der Folter aussage.
Der folternde qadis müsse folglich bestraft werden.
Alle Personen stehen unter diesem Schutz des Folterverbots.
Ihr religiöser, sexueller und ethnischer Status hat auf diesen Schutz keinen Einfluss.

Die Liste solcher Institutionen und Rechtsansprüche, die - im Prinzip - für alle Mitglieder der Rechtsordnung in gleicher Weise gelten, liesse sich fortsetzen.
Es handelt sich um wichtige Beiträge der juristischen Tradition des Islam zu einer universellen Rechtskultur, in der Menschen als Rechtssubjekte gedacht sind, deren rechtliche Chancen nicht durch Religion, Geschlecht oder Ethnie determiniert sind.

Aber die so ausgearbeiteten universalen Institutionen und Konzeptionen werden nicht in allen Bereichen des Rechts in gerichtsverbindliche Normen übersetzt.
Das Familien-, Ehe- und Erbrecht, das Strafrecht und das Zeugnisrecht institutionalisieren die materielle Ungleichheit zwischen Muslimen und Nicht- Muslimen einerseits, zwischen Frauen und Männern andererseits.
Wenn die Justiz für ihre Verhandlungen einen gewaltfreien Raum schafft, so sind ihre Strafen - ebenso wie die unserer eigenen Rechtskultur vor dem 18. Jahrhundert - nicht mit unseren heutigen Vorstellungen von gerechten und angemessenen Sanktionen in Übereinstimmung zu bringen.
Die universalen Prinzipien des muslimischen Rechts, die auf der Gleichheit von Rechten und Pflichten der Rechtssubjekte beruhen, werden in gerichtsverbindliche Rechtsnormen am überzeugendsten im Bereich des Handels und des Gütertauschs übersetzt.
Die universal angelegten Konzepte von Rechts- und Handlungsfähigkeit, die spätestens seit dem 11. Jahrhundert voll entwickelt sind, üben ihren Einfluss auf die anderen Rechtsbereiche vor allem auf die Argumentation aus, durch die die Juristen die von ihnen in diesen Bereichen gesetzten Ungleichheiten jedesmal verteidigen und begründen müssen.
Das Rationalisierungspotential, das in der universellen Formulierung von Rechten und Institutionen steckt, ist historisch nicht ausgeschöpft worden.

5. Die Grenzen der denkbaren Normenkonflikte

Die Schaffung eines globalen Rechts verlangt aber nicht nur die Anerkennung aller Menschen als potentielle Rechtssubjekte, die als Mitglieder des politischen Gemeinwesens und seiner Rechtsordnung akzeptiert werden können.
Die Institutionen einer universalen Rechtskultur reichen alleine nicht zu, ein globales Recht zu schaffen.
Es gehört dazu vielmehr auch die Bereitschaft und die Fähigkeit, unterschiedliche Rechtstraditionen in das Normensystem so zu integrieren, dass sie der faktischen Verschiedenheit zwischen den politischen Gemeinwesen und ihren Normensystemen Rechnung tragen.
Hat die islamische Rechtstradition in ihrer klassischen Form die Existenz anderer Rechte anerkannt?
Waren die Juristen der sunnitischen und schiitischen Rechtsschulen fähig, ein nicht auf religiösen Quellen beruhendes Normensystem als legitime Form der Gesetzlichkeit zu fassen ?

Die muslimischen Juristen erkennen die Möglichkeiten eines Pluralismus geltender Normen innerhalb einer Rechtsordnung im Prinzip in drei Formen an.
Sie gehen davon aus, dass ein solcher Pluralismus nur im Rahmen einer gemeinsamen Rechtskultur möglich ist, d.h. innerhalb einer Rechtsordnung, die sich auf die gleichen Quellen, d.h. die Offenbarung, und auf gleiche Institutionen (Ehe, Familie etc.) bezieht.
Über die Jahrhunderte diskutieren die muslimischen Juristen die Frage, ob die vor-islamischen religiösen Rechtsordnungen der Juden und Christen auch nach der Verkündung der islamischen Offenbarung ihre Gültigkeit behalten.
Ein Teil der Rechtsschulen sieht keinen Grund, vor-islamische religiöse Normen nach der Verkündung des Koran für Muslime verbindlich zu machen.
Andere wollen das nur dort tun, wo der Koran selbst den Muslimen den Gehorsam gegenüber solchen Normen auferlegt.
Die in diesen Fragen bestehende Unklarheit hat insbesondere in Fragen des Ehe- und Familienrechts zu schwierigen Kompromissen zwischen dem islamischen Recht und dem Recht nicht- muslimischer Gemeinden geführt.
Aber diese Debatten bleiben im Rahmen eines gemeinsamen Rechtsverständnisses zwischen Muslimen, Juden und Christen, das juristische und ethische Normen eindeutig an religiöse Grundlagen gebunden sieht.
Die gemeinsame Rechtskultur ist die Voraussetzung der Anerkennung des Geltungsanspruchs unterschiedlicher Normen.

Dieses Prinzip gilt auch für das Verhältnis der sunnitischen Rechtsschulen zueinander.
Die Schulen des sunnitischen Rechts erkennen sich, spätestens seit dem 10. Jahrhundert, gegenseitig als legitime Vertreter der islamischen Normativität an.
Die gemeinsamen Grundlagen in den Rechtsquellen und den Methoden der Rechtsfindung erlauben im Bereich der Justiz und der Juristenausbildung Formen der Kooperation und der Anwendung und Legitimierung unterschiedlicher Normen.

In abgeschwächter Form gilt daus auch, zumindest für die osmanische Periode, für die politischen Regulierungsmassnahmen, die unter dieser Dynastie jahrhundertelang von den Richtern, deren Rechtsprechung sich an islamrechtlichen Normen orientierte, angewandt wurden.
Ein- und derselbe Richter konnte also innerhalb dieser Periode zwei unterschiedliche Normensysteme für verschiedene Rechtsbereiche anwenden.
Auch diese Anwendung von zwei Normensystemen durch einen Richter war legitimiert durch die politischen Funktionen des osmanischen Sultans und seine Rolle als oberster Gerichtsherr.
Sie ist in der späteren osmanischen Zeit aber zunehmend auf den Widerstand der muslimischen Juristen gestossen.

Normen, die weder auf Offenbarungsgrundlagen noch auf dem politischen Interesse des muslimischen Gemeinwesens beruhen, werden dagegen von den muslimischen Juristen nicht als Rechtsformen anerkannt.
Den ausserhalb des islamischen Herrschaftsbereichs praktizierten Regeln gestehen die muslimischen Juristen daher keinen Rechtscharakter zu.
Die Texte des klassischen islamischen Juristenrechts sind in dieser Frage eindeutig: das nicht- muslimische Territorium ist ein Territorium ohne Recht.
Dort herrschen die Normen des Unglaubens, die keine Rechtsbeziehungen konstituieren.
Die Beziehungen zwischen den Individuen sind also reine Unterwerfungsbeziehungen, die nur auf Gewalt und Macht beruhen.
Daher besteht zwischen den Territorien unter nicht- muslimischen Obrigkeiten und den politischen Gemeinwesen der Muslime ein dauernder Kriegszustand, der zwar durch Verträge zeitweilig beendet werden kann, der aber das rechtlich gebotene Verhältnis zwischen dem " Territorium des Islam " (dar al-islam) und dem " Territorium des Kriegs " (dar al-harb) darstellt.

Deshalb sollen, so lehren zumindest zwei der sunnitischen Rechtsschulen, Muslime nicht unter der Herrschaft von Nicht- Muslimen leben und sich auch nicht zeitweilig ihrer Herrschaft unterstellen.
Andere Schulen lassen die dauernde Unterstellung der Muslime unter nicht- muslimische Herrschaft zu, wenn gesichert ist, dass die Muslime unter solcher Herrschaft ihr Leben nach den Vorschriften ihrer Religion führen können.
Unter diesen Bedingungen könne, so lehren Juristen dieser Schulen, auch das von Nicht- Muslimen beherrschte Territorium als " Territorium des Islam " gelten.
Diese Diskussion gewinnt in der Neuzeit in dem Masse an praktischer Bedeutung, in dem auf dem Balkan, im westlichen und östlichen Mittelmeer, in Indien und Afrika Regionen mit altansässiger muslimischer Bevölkerung von Europäern erobert werden.
Zunehmend erkennen muslimische Juristen einen eigenen Politikbereich an, der von dem der religiös- rechtlichen Norm getrennt ist.
Sie verlangen nicht, dass unter allen Umständen dieser Politikbereich den islamrechtlichen Normen unterworfen sein müsse.
Er kann toleriert werden, solange er den Muslimen als Individuen und Gemeinde eine normengerechte religiöse Lebensführung ermöglicht.

II. Der Platz des islamischen Rechts im Recht der modernen arabischen Staaten

1. Die Kodifikationen und das Recht des Personalstatuts

Im 19. und 20. Jahrhundert wird das Verhältnis zwischen politischer Satzung und religiösem Recht in weiten Teilen der islamischen Welt auf eine neue Grundlage gestellt.
Neue Rechtsformen, die weder auf Offenbarungsgrundlagen beruhen noch auf säkularisierten Formen der religiösen Rechtskultur des Islam, beherrschen immer mehr Rechtsbereiche.
Das Verhältnis zwischen islamrechtlichen Normen, islamischer Normativität und politischer Satzung muss neu definiert werden.

Das osmanische Reich und die es konstituierenden Einheiten beginnen - seit der Mitte des 19. Jahrhunderts - das Recht nach europäischem Vorbild zu gestalten.
Die einzelnen Rechtsbereiche werden in Gesetzesbüchern zusammenfassend geordnet und rationalisiert und als staatliches Recht mit unbeschränktem innerstaatlichen Geltungsanspruch ausgestattet.
Das Schuldrecht wird zwar kodifiziert, bleibt aber im Osmanischen Reich bis zu dessen Ende und in mehreren seiner arabischen Nachfolgestaaten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts materiell an klassische islamrechtliche Normen gebunden, ebenso wie das Familien-, Ehe- und Erbrecht, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts reformiert und in vollem Umfang erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kodifiziert wird.
Ich werde im weiteren diesen Prozess ausschliesslich in der arabischen Welt verfolgen.

Die politischen Bedingungen, unter denen der Kodifikationsprozess bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts durchgeführt wird, schränken die Unabhängigkeit der arabischen Gesetzgeber weitgehend ein.
Erst von der Mitte des 20. Jahrhunderts an haben wir es mit Kodifikationen unabhängiger Nationalstaaten zu tun.
Ägyptens Zivilgesetzbuch von 1949 ist die erste Kodifikation des Zivilrechts, die in ausschliesslich arabischer Regie vorgenommen wird.
Ägypten hat - in Anknüpfung an seine älteren Kodifikationsmodelle - 1949 das Familien- und Erbrecht aus dem Zivilgesetzbuch ausgegliedert und seine Regelung einer Reihe von Einzelgesetzen zum Personalstatut überlassen.
Das Zivilgesetzbuch enthält die Rechtsquellen, das Kollisionsrecht, das Recht der natürlichen und juristischen Personen sowie die Rechtsgeschäftslehre und das Schuld- und Sachenrecht.
Dieses ägyptische Zivilgesetzbuch von 1949 gesteht islamischen Normen nur einen geringen Einfluss auf das Recht zu.
Die " Prinzipien der islamischen Normativität " nehmen - nach Gesetz und Gewohnheitsrecht und vor den " Prinzipien des Naturrechts " - nur den dritten Rang unter den vier Rechtsquellen ein, die der Richter heranzuziehen hat.

Das ägyptische Zivilgesetzbuch von 1949 hat grossen Einfluss auf das Zivilrecht Libyens, des Sudans, Algeriens, Jordaniens, Syriens, Somalias, des Irak, Kuwaits und anderer Golfstaaten ausgeübt.
Es hat auf diese Weise zur Schaffung eines "ägyptischen Rechtskreises" in der arabischen Welt beigetragen, innerhalb dessen das Vermögensrecht stärker vereinheitlicht wurde als im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.
Die Diskussionen der Rechtswissenschaft über diese Arabisierung des Zivilrechts haben die Grundlagen für eine Vereinheitlichung der arabischen Rechtswissenschaft in diesem Bereich gelegt.
Die Gründung staatlicher Universitäten und juristischer Fakultäten begleitet diesen Prozess, der zur Entstehung eines neuen Berufsstandes von Juristen führt, die ihre Ausbildung nicht mehr vorrangig in Moscheen und Studienzirkeln islamischer Juristen erhalten, sondern in juristischen Fakultäten, deren Ausbildungsprogramm sich auf das staatlich gesetzte Recht des 20. Jahrhunderts konzentriert.
Die arabischen Nationalstaaten beschränken also ihre Interventionen in das Feld der Normensetzung nicht mehr auf die Regulierungskompetenzen, die das klassische islamische Recht dem Herrscher in diesem Bereich zugestand.
Der moderne Staat ist ein Gesetzgeber, der klassische islamrechtliche Normen in ganzen Rechtsbereichen ausser Kraft setzt und seine eigene Gesetzgebung als verbindliches Normensystem etabliert.

Neben dem " ägyptischen Rechtskreis " der arabischen Welt steht der französische, zu dem Tunesien, Marokko und Mauretanien gehören, deren Zivilrecht weitgehend französischen Vorbildern folgt.
Die Fürstentümer des arabisch- persischen Golfs und der Jemen haben ihre eigenen Kodifikationen in den letzten 40 Jahren, durchgeführt.
Auch hier ist der ägyptische Einfluss, wenn auch oft nur in vermittelter Form, nachweisbar.
Nur in Saudi- Arabien ist bis heute das vom König erlassene Gesetzesrecht von geringerer Bedeutung als das klassische Islamrecht in der von den Richtern des Landes praktizierten Form.

In den arabischen Staaten mit kodifiziertem Recht war also in den ersten 60 Jahren des 20. Jahrhunderts das Familien-, Ehe und Erbrecht die Rechtssphäre, in der materiell islamrechtliche Normen des klassischen Juristenrechts vorherrschten, während die anderen Rechtsbereiche sich weitgehend an europäischen Vorbildern orientierten.
Die Türkei, die 1926 auch ihr Familien- und Erbrecht durch die Übernahme des schweizerischen ZGB säkularisierte, wich von diesem Muster ab.
Den arabischen Juristen aber galt und gilt das Recht des statut personnel als die Rechtssphäre, die in besonderer Weise die juristische Dimension des Islam verkörperte.
Die Rechtsprechung Ägyptens formuliert daher bis heute den ägyptischen ordre public dahingehend, ich stütze mich hier auf Veröffentlichungen von Holger Jung und Maurits Berger, dass Muslime - gleich welcher Staatsangehörigkeit - immer dem islamischen Personalstatutsrecht unterliegen.
Formulierungen der gleichen Art finden sich im ZGB der Vereinigten arabischen Emirate von 1985 (art. 27) und in Urteilen des obersten marokkanischen Gerichtshofs von 1974 (Holger Jung).
Das jemenitische Zivilgesetzbuch von 1992 geht noch weiter : kein Gesetz und kein internationales Abkommen gilt, das dem Islamrecht widerspricht (art. 34, 36).
Das sind sicher Positionen, die die Schaffung eines globalen Rechts nicht erleichtern, insofern sie internationales Privatrecht durch einseitiges interreligiöses Kollisionsrecht ersetzen (Holger Jung).

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts steht also eine Vielzahl weitgehend säkularisierter Gesetzesbücher dem abgeteilten Rechtsbereich des statut personnel gegenüber, in dem der Staat in Gesetzesform gekleidete islamrechtliche Bestimmungen zum geltenden Recht erklärt und die Richter auffordert, diese Bestimmungen im Lichte der Tradition einer Rechtsschule zu interpretieren.
Diesem Rechtsbereich fällt so die ganze Last der islamischen Legitimierung des staatlich gesetzten Rechts zu.
Zugleich wird - in vielen Staaten - dieses Recht des statut personnel nationalstaatliches Recht, das auf alle Staatsbürger unbeschadet ihrer Religionszugehörigkeit anzuwenden ist.
Die Verstaatlichung des Islamrechts ändert also auch seinen Anwendungsbereich.
Schaut man auf die letzten 80 Jahre zurück, so wird man in Ägypten und Marokko auch im Bereich des Personalstatutsrechts Reformen des Eheschliessungsrecht, des Scheidungsrechts und des Unterhaltsrechts feststellen können.
Diese Reformen berücksichtigen die Forderungen der Frauenorganisationen und solcher politischen Parteien und Assoziationen, die eine tiefgreifende Modernisierung dieses Bereichs fordern, oft nur ungenügend.
Der Widerstand konservativer Kreise und islamistischer Bewegungen erklärt die Schwierigkeit, in diesem Bereich zu weitergehenden Reformen zu kommen, nicht in vollem Umfang.
Das tunesische Personalstatutsrecht zeigt, dass weitergehende Reformen auch in der arabischen Welt möglich sind.

2. Die historistische Islamisierung des staatlich gesetzten Rechts

Die Reduzierung des islamischen Rechts auf den Bereich des Familien- und Erbrechts ist seit dem Ende der 60er Jahre heftig kritisiert worden.
Der arabische Nationalismus als Legitimationsideologie der arabischen Nationalstaaten hat seit dem Ende der sechziger Jahre an Glaubwürdigkeit verloren und dieser Vertrauensverlust ist der Hintergrund der Angriffe, die gegen das Modell staatlich gesetzten Rechts geführt werden.
Die am weitesten verbreitete Forderung nach einer Änderung dieser Situation ist die nach einer "Kodifizierung der islamischen Normativität".
Die Juristen und Politiker, die diese Forderung erheben, versuchen, dem staatlichen Recht durch den Rückgriff auf eine allen muslimischen Nationalstaaten vorausgehende und ihnen allen gemeinsame religiöse Rechtsordnung, die des Islamrechts, eine religiöse, kulturelle und historische Legitimation zu geben.
Es handelt sich also, wenn diese Analogie hier erlaubt ist, um eine " historische Schule " des Rechts.

Die Vertreter dieser Tendenz versuchen, die in den Gesetzbüchern geregelten Rechtsbereiche dadurch religiös und historisch zu legitimieren, dass sie klassische islamrechtliche Institutionen in Gesetzesform kleiden und in die nach europäischen Vorbildern geformten staatlichen Gesetzbücher integrieren.
Das ist am deutlichsten anschaubar im Bereich des Familien-, Ehe- und Erbrechts, wo die Kodifikationen Kuwaits, Libyens und Algeriens von 1984, Omans von 1997, die Entwürfe der Arabischen Liga von 1987 und der Vereinigsten Arabischen Emirate sich weitgehend im Rahmen klassischen Schulrechts halten.
Aber die Versuche zur Kodifizierung islamrechtlicher Normen gehen über das Familien- und Erbrecht hinaus.
Islamische Strafrechtsbestimmungen sind in Libyen 1972 dem modernisierten StGB zugesetzt worden.
Selbständige Strafgesetzbücher mit starker islamrechtlicher Dominanz sind im Sudan 1983 und im Jemen 1994 beschlossen und in Kraft gesetzt worden.
Das ägyptische Parlament hat 1982 ein StGB verabschiedet, das der Präsident der Republik nie in Kraft gesetzt hat.
Diese islamisierenden Strafgesetzbücher, auch der ägyptische Text, umfassen das ganze klassische Strafregister der islamischen Juristen: Steinigung für illegale sexuelle Beziehungen, Kreuzigung für Strassenraub, die Todesstrafe für Apostasie, die Amputierung von Gliedmassen und anderes mehr.
Die Vertreter dieser " historischen Rechtsschule " sind überwiegend damit beschäftigt, den Inhalt klassischer Bestimmungen in Gesetzesformen zu übersetzen, sie zu kodifizieren und ihnen neue Anwendungsbereiche zu schaffen.
Die Frage der Akzeptanz solcher klassischer Normen stellt für sie offensichtlich kein ernsthaftes Problem dar.
Ebensowenig ihre Vereinbarkeit mit internationalen Konventionen.

Auch im Bereich des Zivilrechts zeigen die neuen Gesetzbücher eine deutliche Tendenz, islamrechtliche Tendenzen stärker zu betonen.
Das war der Fall in dem vom ägyptischen Parlament 1982 verabschiedeten, aber vom Präsidenten der Republik nicht in Kraft gesetzten Entwurf eines neuen ZGB.
Das ist aber auch der Fall im ZGB Jordaniens von 1976, Kuwaits von 1981, der Vereinigten Arabischen Emirate von 1986 und des Jemen von 1992.
Auch hier ist die Methode der Islamisierung des Rechts die gleiche: die Übersetzung von Institutionen des klassischen Islamrechts in Gesetzesform und ihre Einfügung in die Formen und die Materie moderner Gesetzesbücher.

Der Ruf nach einer " Kodifizierung der islamischen Normativität " zeigt dennoch, wie sehr das westliche Staats- und Gesetzgebungsmodell sich auch in der arabischen Welt etabliert hat.
Nicht einmal die "historische Schule"verlangt die Rückkehr zum islamischen Recht als einem Juristenrecht.
Sie fordert vielmehr "die Kodifizierung der islamischen Normativität".
Die staatliche Kompetenz zur Normenfestsetzung durch die Gesetzgebung wird heute nur noch in Saudi- Arabien in Frage gestellt.

3. Die Konstitutionalisierung der islamischen Normativität

Diese Anerkennung des westlichen Staats- und Gesetzgebungsmodells findet sich auch in der verfassungsrechtlichen Rekonstruktion der Prinzipien islamischer Normativität, wie sie vor allem die Rechtsprechung des Obersten Verfassungsgerichts Ägyptens unternimmt.
Die von den europäischen Mächten des 19. Jahrhunderts ermutigte Kodifikation des modernen Rechts in der muslimischen Welt hatte nur in ganz wenigen Fällen und nur für sehr kurze Zeit Platz für arabische Verfassungen.
Die Forderung nach Verfassungen aber hat in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im osmanischen Reich und in der arabischen Welt die Opposition sowohl gegen die muslimischen Monarchien als auch gegen die europäischen Mächte mobilisiert.

In der Dekade nach dem ersten Weltkrieg haben fast alle ostarabischen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs ihre eigenen Verfassungen verkündet.
Nach dem zweiten Weltkrieg haben sie ihre Verfassungen häufig modifiziert und neu konzipiert.
Die Staaten des Maghrib formulieren ihre eigenen Verfassungen erst nach Beendigung der Kolonialherrschaft in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, die Golfstaaten, mit Ausnahme Kuwaits, erst in den 70er Jahren.
Oman verkündet seine erste Verfassung im November 1996.
Saudi- Arabien hat seit dem 1. März 1992 ein Grundgesetz, das legt aber fest, dass der Koran und die Sunna des Propheten die Verfassung des Königreichs sein und der König nur im Rahmen seiner regulativen Kompetenzen in die Normsetzung eingreife.

Die Legitimationskrise des arabischen Nationalismus der ausgehenden sechziger Jahre lässt sich an den Verfassungsartikeln der 70er Jahre ablesen, in denen die ostarabischen Staaten die "Prinzipien der islamischen Normativität" zur Grundlage ihrer Gesetzgebung erklären um so die Legitimität der staatlichen Gesetzgebung zu stärken (Ägypten, Syrien, der Irak, Qatar, Oman, Bahrayn, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate, der Sudan und der Jemen fügen einen solchen Artikel in ihre Verfassungen ein).
Gleichzeitig bilden sich sowohl in den ostarabischen als auch in den maghribinischen Staaten in den 70er und 80er Jahren Institutionen heraus, die die Rolle der Verfassung im Rechtsleben der neuen Staaten stärken sollen.
Die ägyptische Verfassung von 1970 sieht die Schaffung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit vor.
Kuwait kommt den Ägyptern zuvor: das erste arabische Verfassungsgericht entsteht 1973 in Kuwait, 1978 folgt Ägypten.
Marokko richtet 1977 eine Verfassungskammer im höchsten Gerichtshof ein, das gleiche tut der wiedervereinigte Jemen nach 1990.
1987 schafft Tunesien sich einen conseil constitutionnel.
Im Jahre 1992 wandeln die Marokkaner ihre verfassungsrechtliche Kammer in einen conseil constitutionnel nach französischem Modell um.
Der Libanon (1993/94) und Algerien (1996) folgen.
Jordanien richtet einen " High Council for the Interpretation of the Constitution " ein.

Einige dieser Institutionen haben nur technische Beratungsfunktion für den Staatschef oder die politische Elite.
Andere, wie der kuwaitische und der ägyptische Verfassungsgerichtshof, aber auch der marokkanische conseil constitutionnel verfolgen ehrgeizigere Ziele.
Es geht um die Beschränkung der Macht des Gesetzgebers im Namen der Verfassung.
Folgt man der Kritik, die prominente kuwaitische Juristen an der Rechtsprechung ihres Verfassungsgerichts üben, so übt dieses seine Funktion auf diesem Gebiet nicht effektiv aus.
Dagegen besteht kein Zweifel daran, dass das ägyptische Verfasungsgericht seit seiner Gründung - vor allem seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre - effektiv in das politische und juristische Leben des Landes eingegriffen hat.
Er hat eine Vielzahl von Gesetzen als verfassungswidrig aufgehoben und andere mit Begründungen verteidigt, die deutlich machen, dass es die kritische Auseinandersetzung mit den bürokratischen und politischen Traditionen des Einparteienstaats nasserscher Prägung und den Schutz der formalen Funktionsbedingungen eines demokratischen Staats als seine wichtigsten Aufgaben ansieht.
Seine Entscheidungen werden regelmässig veröffentlicht.

In seiner Interpretation des Artikels 2 der Verfassung, der seit 1980 " die Prinzipien der islamischen Normativität " zu " der wichtigsten Quelle der ägyptischen Gesetzgebung" erklärt, betreibt das ägyptische Verfassungsgericht eine Politik der Konstitutionalisierung des islamischen Rechts.
Es verwirft, in seiner Entscheidung gegen die Azhar- Universität ( vom 4. Mai 1985), die Idee, dass der Artikel 2 der Verfassung den Gerichten die Möglichkeit gebe, nach nicht kodifiziertem islamischem Recht zu urteilen.
Es hält fest, dass der Artikel 2 sich nur an den Gesetzgeber richte, der durch diesen Artikel an die Prinzipien islamischer Normativität gebunden werde, dass der Artikel aber keine unmittelbar rückwirkende Kraft für die Zeit vor der Verfassungsmodifikation habe.
Bei der Feststellung der Prinzipien islamischer Normativität geht es dem Gericht nicht vorrangig um die Übersetzung traditioneller Normen in Gesetzesform und ihre Einfügung in bestehende Gesetzbücher als vielmehr um den Versuch, islamische Normativität als Prinzipien zu begreifen, d.h. als höherstufige Normen, die ihrerseits andere Normen rechtfertigen und mit ihnen übereinstimmen.
Das Ziel dieser Interpretation ist es offensichtlich, die islamische Legitimierung staatlichen Rechts weder aus dem Bestehen eines einzelnen kantonierten Bereichs islamrechtlicher Institutionen, z.B. dem Familien- und Erbrecht, abzuleiten noch aus der Übernahme klassischer islamrechtlicher Lösungen ins moderne staatliche Recht.
Vielmehr geht es darum, den ganzen Prozess der Gesetzgebung dadurch islamisch zu legitimieren, dass die islamische Normativität als Quelle von Prinzipien begriffen wird, die das Gericht und der Gesetzgeber interpretierend erarbeiten.
Die Formen, die das klassische Islamrecht solchen Prinzipien gegeben hat, binden den modernen Gesetzgeber nicht.
Mit den anderen Verfassungsprinzipien müssen die der islamischen Normativität , wie das Gericht ausführt, " eine organische Einheit " bilden.
Die Islamisierung des Rechts muss also mit den anderen Rechten, die die Verfassung den Individuen gibt, den Freiheitsrechten, den Rechten auf kulturelle und wissenschaftliche Kreativität, den individuellen Schutzrechten vereinbar sein.
Übertragen in ein anderes Vokabular geht es darum, Islamisierung und Demokratisierung als vereinbar zu begreifen.
Im Rahmen eines autoritären Präsidialregimes wird Islamisierung als Dimension eines partiellen Demokratisierungsprozesses begriffen.

Das Gericht unterscheidet, was den Artikel 2 der Verf. angeht, zwischen ewigen und unveränderlichen Normen der islamischen Normativität - deren Existenz ausgerechnet am Beispiel der Polgynie ausgeführt wird (Entscheidung vom 14. August 1994)- und zwischen veränderlichen islamrechtlichen Bestimmungen, die legitimerweise zur Dispositionsmasse des Gesetzgebers gehören.
Diese Trennung erlaubt es den Verfassungsrichtern, Schulordnungen, die den Schleier für Schülerinnen verbieten, als vereinbar mit islamischen Prinzipien zu verteidigen.
Sie erlaubt ihnen, die klassische hanafitischen Regelungen der Unterhaltspflicht des Vaters für seine Kinder für verfassungswidrig zu erklären, weil sie den Anspruch der Kinder auf Unterhalt nicht zureichend absichern und die Ordnung der Familie so belasten, dass ihre Ersetzung durch den Gesetzgeber zur religiösen Pflicht und zur verfassungsrechtlich gebotenen Lösung werde.
In bezug auf die Reformen des Scheidungsrechts hat das Gericht bisher den Gesetzgeber durch seine Rechtsprechung ebenso unterstützt wie in seiner Abwehr der Versuche, die Strafen des StGB durch die des klassischen Islamrechts zu ersetzen.

Das Verfassungsgericht wird so zum höchsten staatlichen Interpreten der Prinzipien islamischer Normativität und zur Instanz, die über die richtige Form entscheidet, die der juristischen Dimension des Islam zu geben ist.
Es begrenzt die Kompetenzen des Gesetzgebers im Namen der Verfassung und gleichzeitig im Namen unveränderlicher islamischer Normen einerseits und bindender Prinzipien der islamischen Normativität andererseits.
Es sichert dem staatlichen Gesetzgeber die alleinige Kompetenz, die Prinzipien der islamischen Normativität in staatliches Recht zu übersetzen.
Die Doktrin des Gerichts von der organischen Einheit aller Verfassungsartikel verweist nicht auf eine Wertehierarchie, in der die rangniederen Werte den ranghöheren weichen müssen, sondern auf ein Konzept der prästabilierten Harmonie von Normen, von denen die höherstufige die niederstufigere zwar interpretieren und in ihrem Geltungsbereich festlegen, aber nicht aufheben kann.
Diese Doktrin interpretiert den Artikel 2 der Verfassung nicht als Instanz über, sondern als Norm in der Verfassung.
Die islamische Legitimierung staatlichen Rechts durch die Aufrechterhaltung klassischer islamrechtlicher Normen in einem kantonierten Bereich erscheint dem Gericht ebenso unzureichend wie der Versuch, bestehenden Kodifikationen durch das Anhängen oder Aufpfropfen klassischer islamrechtlicher Normen einen islamischen Charakter zu verleihen.
Vielmehr soll die Bindung an Prinzipien der islamischen Normativität für den ganzen Prozess der Gesetzgebung gelten.
Die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarungstexten, staatlich gesetzten Normen und richterlicher Interpretation islamischer Normativität ist daher neu zu beantworten.

Schafft eine solche Form der Islamisierung des Rechts, die islamische Normativität als Anleitung zur prinzipiengebundenen Gesetzgebung versteht, günstigere Bedingungen für globale Rechtsformen ?
Man könnte, um eine solche Prognose zu stützen, darauf verweisen, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichts seit dem Ende der 80er Jahre immer häufiger Verweise auf demokratische Traditionen, Menschenrechtsdeklarationen, die juristische Praxis internationaler Gerichte und selbst auf amerikanische Rechtstheorien und Urteile des Supreme Court enthalten.
Aber zugleich ist die Rechtsprechung des Gerichts eindeutig: Internationale Konventionen und Verträge stellen keine supralegislativen Normen dar.
Heisst das, dass sie - wie alle nach 1980 erlassenen Gesetze - mit den Prinzipien islamischer Normativität vereinbar sein müssen?
Das Gericht hat diese Schlussfolgerung nicht gezogen.
Es hat sich vielmehr unzuständig erklärt für den Konflikt zwischen legislativen Texten, internationalen Verträgen und Konventionen und hat diesen Konflikt der Rechtsprechung der gemeinen Gerichtsbarkeit übertragen.

Die Verweise auf die Prinzipien islamischer Normativität können beides werden: Schranke für die Ausbildung eines globalen Rechts und der Souveränität des Gesetzgebers oder Legitimierung von Prinzipien, die die Öffnung zu anderen Rechtsformen erlauben.
Eine Prognose ist nur durch eine vergleichende Analyse der Rechtsprechung der arabischen Verfassungsgerichte und Verfassungsräte zu gewinnen, eine Analyse, die die Beziehung dieser Rechtsprechung zur Gesetzgebung und zur Rechtspolitik nicht aus den Augen verlieren darf.
Das Konfliktpotential, das zwischen dem Souveränitätsanspruchs des Volks als Quelle der Gesetzgebung und der Offenbarung als Quelle unveränderlicher islamischer Normativität besteht, wird mit Sicherheit auch in den nächsten Jahren komplexe Situationen schaffen.