Anmerkungen zum Thema Selbstverantwortung

Punkt 1.
Laut Islam ist der Mensch nicht an die Vermittlung durch eine Institution gebunden, sondern jedes Individuum kann sich durch seine guten Taten und seine "Gottesfurcht" direkt einen Platz im Himmel verdienen – allerdings nur für sich selbst, nicht für anderen. Somit wird die Eigenverantwortung jedes Einzelnen betont (Sure 7, Vers 157).
Gleichzeitig lautet aber eines der Glaubensgrundsätze: das Schicksal als Göttliche Fügung.

Punkt 2.
Neben der Eigenverantwortung steht die Verantwortung für andere: Jeder Muslim ist verpflichtet, zu «gebieten, was recht ist» und zu «verbieten, was verwerflich ist (mehrfach im Koran, z.B. ebenfalls in Sure 7, Vers 157).

Diejenigen Tunesier, die ich näher kennen gelernt habe, leben tatsächlich die beiden oben angeführten Grundsätze aus dem Vollen und sogar gleichzeitig aus:
Allerdings in einer etwas komplizierten und für uns kaum nachvollziehbaren Variante; dies ergibt sich sicherlich aus der für uns nicht relevanten und kaum verständlichen Interpretation der o.g. Texte.

Genauer gesagt sieht das so aus:

Der Tunesier (zumindest meist derjenige, den wir in den Touristenburgen kennen gelernt haben) weiß wohl über die Eigenverantwortung, also über das was richtig oder falsch an seinem handeln ist, bescheid. Dennoch bevorzugt er zunächst einmal zu handeln, wie es im Punkt 2. beschrieben steht. Dieses bedeutet im Klartext: er bevorzugt es, die Verantwortung für Dich zu übernehmen, indem er Dich zur Eigenverantwortung motiviert (damit erfüllt er die Verpflichtung aus Sure 7). Er ist auch bemüht, dir zu gebieten, was recht ist und zu verbieten, was verwerflich ist.

Dabei ist die Motivation und die Argumentation, die er dir vermittelt, und zwar, dass alles machbar ist, wenn Du es nur wirklich willst, bestechend klar und vor allem im höchsten Maße überzeugend.. Darüber hinaus ist seine Sichtweise sehr effizient als Stärkung Deines Selbstvertrauens: denn es ist schon ein enormer Motivationsschub zu wissen, dass jemand so bedingungslos an dich und deine Tatenkraft glaubt. Und somit übernimmst du, ohne es groß zu merken, mit stolzer Brust die Verantwortung für beide und akzeptierst seine Verantwortung, um dich vor dem Verwerflichen zu schützen.

Zum oben angeführten Punkt 1 ist sein Verhältnis nicht so eindeutig, geschweige denn so konsequent. Man könnte geradezu meinen, diesen Punkt hat er irgendwie falsch verstanden. Denn er verbannte aus seinem Gedankengut und seinen Prinzipien (die hat er natürlich als stolzer Araber) die Worte der Sure, die von der unmittelbaren Eigenverantwortung handelt, mit einer für dich verblüffender Leichtigkeit des Seins ins nachbarschaftliche Gedankengut (in diesem Falle in Deines).

Dies spricht eindeutig dafür, dass er den Koran sozusagen interpretiert hat und offensichtlich zu der Erkenntnis kam, dass sowieso Allah derjenige ist, der sein Leben und Schicksal bestimmt. Er entschied somit, Gott nicht ins Werk zu pfuschen. (Womit er recht hat, s. Glaubensgrundsatz).

Eine kluge Entscheidung, die ihn vom Verdacht der Anmaßung frei spricht. Auch kommt er auf diesem Wege der Selbsterkenntnis zu dem einzig logischen Schluss, dass Eigenverantwortung in seinem, sehr individuellen Falle nicht nur nicht machbar ist, nein, er ist davon überzeugt, dass diese vom Gott nicht gewollt ist und sein Wirken gegen alle Schicksalsschläge geradezu Sünde wäre.

Und diese Schicksalsschläge nimmt er solange hin bis er, wie gesagt, die Möglichkeit bekommt – die Verantwortung für dich zu übernehmen, oder für dich, oder für dich….…….

Kommt drauf an, alles in Gottes Hand, Schicksal halt, wer da gerade vom Himmel (angeflogen) runter kommt.