Mensch und Justiz: Die verweigerte Scheidung
Kaum verheiratet, kommt es zu Streit und Gewalt: Die Ehefrau vermutet dahinter eine «Scheinehe» und verlangt die Scheidung, der ausländische Mann bestreitet die Vorwürfe. Die Richter entscheiden – zugunsten des Mannes.
Von Isabel Morf
* Namen geändert
Für mich war es eine Liebesheirat», sagt Aniko Kovacs*. Zum Beweis legt sie Fotos vor, aufgenommen in ihrer Wohnung. Aufnahmen von einem dunkelhaarigen Mann in Jeans und blauem Pulli, der den Weihnachtsbaum schmückt. Weihnachten 1998 verbrachten die 50-jährige gebürtige Ungarin und der 30-jährige Türke Kemal Erdem* als Paar.
Kennen gelernt hatten sie sich im Sommer 1997 in einem Dancing in der Schweiz. Bald entwickelte sich ein Liebesverhältnis. Aniko war beeindruckt von Kemal; er war intelligent und gebildet, sprach mehrere Sprachen. Zeitweise war Kemal in Holland, wo er ein Studium in Personalmanagement absolvierte. Dann schrieb er Aniko Briefe; sie zeigt sie vor, ein ganzer Stapel in einem roten Sichtmäppchen, auf einen der Umschläge ist ein grünes Herz gezeichnet. War Kemal in der Schweiz, trafen sie sich. Er wohnte aber nicht bei ihr, sondern bei seinem Bruder. «Ich liebte ihn», sagt Aniko Kovacs, «innerlich war er älter, reifer als seine 30 Jahre.»
Nach der Heirat kam der Streit
Ende April 1998 heirateten die beiden. Nun wollte Aniko, dass Kemal bei ihr einzog und dass er Arbeit suchte. Ende Mai hatten sie deswegen einen Streit. Da wurde Kemal plötzlich gewalttätig: Er schlug seine Frau, packte sie, drückte ihren Kopf nach unten, so dass sie zu Boden fiel, hart auf Ellbogen und Knie. Dann verliess er die Wohnung. Aniko war geschockt. Sie hatte Schmerzen, ihr Knie schwoll an.
In den nächsten Tagen tauchte Kemal häufig bei ihr auf. Er überwachte sie, damit sie nicht zur Polizei gehen und ihn anzeigen konnte. Aniko hatte grosse Angst vor ihm; sie wechselte das Schloss an ihrer Tür aus. Einmal drohte er ihr: «Wenn du dich scheiden lässt, dann passiert etwas.»
Einige Tage später ging Aniko zum Arzt und liess sich die Verletzungen bescheinigen. Zur Polizei wagte sie sich erst einen Monat später. Sie zeigte ihren Mann wegen Körperverletzung an. Aniko reichte auch die Scheidung ein. Ihr war klar: Für Kemal war die Heirat mit ihr lediglich eine «Papierheirat» gewesen. Diese hatte ihm eine Aufenthaltsbewilligung und das Recht auf Fürsorgeunterstützung in der Schweiz und die Befreiung vom Militärdienst in der Türkei eingebracht. Die Ehe hatte gerade einen Monat gedauert.
Vier Jahre Frist für «Scheinehe»
Ein klarer Fall, könnte man annehmen. Es kam anders. Heute, nach den Erfahrungen mit den Gerichten, sagt Aniko Kovacs: «Ich würde es nicht mehr tun.» Fast zwei Jahre nach der Anzeige ist sie noch immer mit Kemal verheiratet. Gesehen hat sie ihn seit anderthalb Jahren nicht mehr. Sie hat jedoch kaum eine Chance auf eine Scheidung vor Ablauf der vierjährigen Trennungsfrist. Eine solche sieht das neue Eherecht für den Fall vor, dass nur der eine Ehepartner die Scheidung will.
Noch heute muss Aniko weinen, wenn sie ihre Geschichte erzählt. Ihre Lebenssituation ist nicht einfach. Von Beruf Elektrotechnikerin, ist sie seit einigen Jahren arbeitslos und fürsorgeabhängig. Sehnsüchtig spricht sie von ihrer letzten Arbeit, einem einmonatigen Temporäreinsatz vor drei Jahren, als sie in einer Firma beim Einbau einer Lüftung mitarbeitete. Kein Zweifel, ihr liegt viel an ihrem Beruf. Sie weiss aber nicht, ob sie im Moment arbeitsfähig wäre, denn die Geschichte mit Kemal hat ihr seelisch sehr zugesetzt.
Im März 1999, noch vor dem Scheidungsverfahren, fand der Prozess wegen Körperverletzung statt. Kemal wies alle Vorwürfe von sich. Erst mutmasste er, Aniko sei vielleicht von Attila Gömöri zusammengeschlagen worden, einem Bekannten, der sie einen Tag nach dem Streit besucht hatte. Dann erklärte er, sie habe sich die Verletzungen zugezogen, als sie einige Tage oder Wochen vor ihrer Auseinandersetzung beim Aussteigen aus einem Bus gestürzt sei. Oder, dies seine dritte Version, sie könnte sich die Verletzungen auch selbst zugefügt haben.
Von dieser Auswahlsendung liess sich das Gericht zwar nicht überzeugen, aber es zweifelte auch Anikos Darstellung an: Warum war sie nicht gleich zum Arzt gegangen? Warum nicht zu ihrem Hausarzt? Und warum stand im Arztzeugnis nur etwas von Schürfungen am Knie, aber nichts von der Schwellung? Was Kemals Drohung betraf, bei einer Scheidung werde etwas passieren, so stand für das Gericht Aussage gegen Aussage. Es entschied schliesslich «in dubio pro reo»: Freispruch für Kemal. Ihm wurde eine Prozessentschädigung von 1600 Franken zugesprochen. Ganz besonders bitter ist für Aniko, dass das Gericht es nicht für nötig hielt, ihre Zeugen zu befragen: ihren Bekannten Attila Gömöri, ihren Arzt sowie ihre Sozialberaterin.
Wer sagt die Wahrheit?
Im Oktober 1999 folgte das Scheidungsverfahren. Aniko hatte in ihrer Scheidungsklage geltend gemacht, die Ehe sei unheilbar zerrüttet: einerseits wegen der Gewalttätigkeit ihres Mannes, anderseits weil die Heirat von seiner Seite aus lediglich eine «Papierheirat» gewesen sei.
Auch hier bestritt Kemal alle Vorwürfe. Die Ehe sei keine «Scheinehe» gewesen, es sei ihm nicht um die Aufenthaltsbewilligung gegangen. In der Schweiz finde er ohnehin keine Stelle auf seinem Beruf, er gehe darum nach Holland zurück. Er habe seine Frau vielmehr aus Liebe geheiratet und wolle der Ehe nochmals eine Chance geben. In der Einvernahme einige Monate zuvor hatte er aber ausgesagt, er wolle nicht mehr mit ihr zusammenbleiben, weil sie ihn nur geheiratet habe, um auch für ihn Fürsorgegelder kassieren zu können.
Anikos Argumentation hatte vor Bezirksgericht keinen Erfolg. Es sah die Körperverletzung und die Drohung als nicht erwiesen an, wozu auch der diesbezügliche Freispruch beitrug. Darüber hinaus bezweifelten die Richter, dass diese Vorfälle die unheilbare Zerrüttung der Ehe belegen würden. Auch den Vorwurf der «Papierehe» sah das Gericht als unbewiesen an. Dass der Mann die eheliche Beziehung nach nur vier Wochen abgebrochen hatte, wurde offenbar nicht als Indiz für eine Scheinehe betrachtet. Anikos Scheidungsklage wurde abgewiesen; sie musste ihrem Mann eine Prozessentschädigung von 2500 Franken bezahlen.
Die Unterlegene kämpft weiter
«Warum werde ich bestraft?», fragt sie sich seither. «Warum muss ich jetzt auch noch bezahlen?» Es kommt ihr in den Sinn, wie ihr Mann Geschenke von ihr zurückforderte: kleine Dinge, eine Topfpflanze, eine Bluse. Gegen den Freispruch von der Körperverletzung hatte sie beim Obergericht Berufung eingelegt. Doch dieses entschied Ende 1999 gleich wie die Vorinstanz: Freispruch für Kemal. Diesmal wurde Aniko verpflichtet, ihm 1200 Franken Prozessentschädigung zu bezahlen.
Auch das Scheidungsurteil hatte Aniko weitergezogen. Aber die Zivilkammer des Obergerichts liess sie ebenfalls abblitzen. Aniko hatte einen Antrag auf Entlassung ihres unentgeltlichen Rechtsvertreters gestellt, weil sie sich von diesem nicht gut vertreten fühlte. Daraufhin entzog ihr das Obergericht die unentgeltliche Prozessführung mit der Begründung, ihre Berufung gegen das Urteil des Bezirksgerichts sei ohnehin aussichtslos. Es seien nämlich keine Gründe ersichtlich, weshalb es für Aniko unzumutbar sein solle, die Ehe bis zum Ablauf der vierjährigen Trennungsfrist fortzusetzen.
Aniko wird dennoch Berufung einlegen. Allein, ohne Rechtsvertretung.
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