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Re: Referendum in Tunesien
#144048
27/05/2002 09:21
27/05/2002 09:21
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Claudia Poser-Ben Kahla
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Tunesien: Staatspräsident Ben Alit vor einer vierten Amtszeit? Doch zuvor muss per Referendum die Verfassung geändert werden - Vermutlich kein Problem
Im folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus einer Serie, die in lockerer Folge Länderporträts veröffentlicht. Diesmal geht es um Tunesien, das viele Deutsche immer noch für ein wunderschönes Urlaubsland halten, das in Wirklichkeit aber eins der repressivsten Regime des Maghreb darstellt. Der Artikel erschien im Neuen Deutschland am 25. Mai 2002 unter dem Titel "Tunesien zwischen Al Qaida und Intifada". Der Autor ist Anton Holberg.
In einer Zeit, da das Attentat auf die Synagoge von Djerba das vom Regime gepflegte Bild eines stabilen Tunesiens ankratzte, will sich Staatspräsident Zine el-Abidine Ben Ali zum vierten Mal in dieses Amt »wählen« lassen.
Dazu jedoch ist die Revision des Verfassungsartikels notwendig, der in Tunesien bislang einem Regime der absoluten persönlichen Macht noch entgegenstand. Am 26. Mai nun ist die Bevölkerung aufgerufen, den Artikel, der die Amtszeit des Staatspräsidenten bislang auf drei Perioden beschränkte, aufzuheben und es ihm so zu ermöglichen, im Jahre 2004 zum vierten Mal anzutreten. Ben Ali hatte 1987 die sinkende Popularität des »Vaters der Nation«, Habib Bourguibas, genutzt, um sich in einem kalten Staatsstreich selbst an die Macht zu hieven. Die Verfassungsänderung, deren Annahme durch die Bevölkerung unter tunesischen Bedingen nur noch ein formaler Akt ist, und die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren werden es ihm erlauben, bis 2014 im Amt zu bleiben – wenn sich nicht inzwischen Grundlegendes in Tunesien ändert. Seinen Machtantritt hatte Ben Ali mit dem Versprechen einer demokratischen Öffnung begleitet. Als es nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in Mode kam, dass die westlichen Verbündeten solcher Länder wie Tunesien von ihren Klienten mehr Demokratie forderten, wurden Anfang der 90er Jahre in der Tat einige Schritte in diese Richtung unternommen. Doch die begleitenden Kontrollmaßnahmen zielten auf die Aufrechterhaltung des alten Regimes und damit die Sicherheit westlicher Investitionen. An erster Stelle stand die verschärfte Repression gegen die islamistische Opposition, die in der An-Nahda-Partei in Tunesien einen vergleichsweise gemäßigten Ausdruck fand. Unter der Oberfläche der formalen Demokratisierung wurden alle Aspekte des tunesischen Polizeistaates aufrechterhalten und in letzter Zeit sogar verschärft.
Das gilt für den Einsatz gegen Demonstrationen, für Folter und Mord in den Gefängnissen, für Dauerüberwachung und Belästigung von Menschenrechtsvereinigungen und für Einschränkungen der Pressefreiheit. Die Versuche, etwa die Presse stärker als zuvor zu knebeln, mussten nur insofern kurzfristig aufgeweicht werden, als sich in London der TV-Sender »Al Mustakillah« etabliert hat, der kritische Berichte nach Tunesien ausstrahlte – worauf auch die Staatsmedien unter Zugzwang gesetzt wurden.
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Fläche: 163610 Quadratkilometer Bevölkerung: 9,6 Millionen Hauptstadt: Tunis Staatsform: Präsidialrepublik Staatsoberhaupt: Zine el-Abidine Ben Ali Religion: Muslime 99,4 %, etwa 2000 Juden Mittlere Lebenserwartung: 70 Jahre Bruttosozialprodukt pro Kopf: 2100 Dollar
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Das Referendum findet aber auch in einer Zeit wachsender Opposition ab. Hintergrund ist neben dem Mangel an Demokratie die negative Bestätigung der Parole Ben Alis, dass die Freiheit des Volkes mit seinem Wohlstand beginne. So wies Nejib Chabbi, Führer der legalen Oppositionspartei Parti Democrate Progressiste (PDP) jüngst darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit entgegen den offiziellen 16 Prozent de facto 30 Prozent betrage. Auf Grund des Assoziierungsabkommens mit der EU seien weitere 120000 Arbeitsplätze gefährdet. Ein weiterer Faktor, der in Richtung auf eine Destabilisierung der Herrschaft Ben Alis wirkt, ist die Intifada der Palästinenser und deren Repression durch die Besatzungsmacht Israel.
Das Attentat von Djerba war offenbar das Werk einer kleinen, mit dem Al-Qaida-Netzwerk verbundenen Untergrundzelle und als solches politisch nicht besonders bedeutsam. Wichtiger allerdings ist die Tatsache, dass auch in Tunesien, einem der letzten arabischen Länder mit einer größeren jüdischen Gemeinde, im Zusammenhang mit den Ereignissen in Palästina sowohl die Opposition gegen die Israel-Politik des Regimes aber auch eine anti-jüdische Stimmung zunimmt.
Zwar haben die tunesische Linke und ihr zugehörige Menschenrechtsgruppen den islamistischen Anschlag auf die Al-Ghriba-Synagoge unmissverständlich verurteilt. Auch die Losungen der von der Polizei mit großer Brutalität aufgelöste 1. Mai-Demonstration in Tunis, die die Solidarität mit Palästina und die Verurteilung der proamerikanischen Politik vieler arabischer Länder – einschließlich Tunesien – in den Mittelpunkt stellten, unterschied deutlich zwischen den Juden und dem Staat Israel. Gleichzeitig häufen sich Berichte über Belästigungen von Juden. Anfang Mai fand auf Djerba die jährliche Pilgerfahrt zur Al-Ghriba Synagoge statt. Während im Jahr 2000 noch 8000 jüdische Pilger gekommen waren, waren es im Mai 2001 – nach Beginn der Intifada – nur noch 1300 und dieses Jahr um 1000. Die überwiegend tunesischen Teilnehmer an der von einem gewaltigen Polizeiaufgebot geschützten Prozession dankten Ben Ali für den Schutz und ließen ihn hochleben. Die muslimischen Zuschauer jedoch, seit jeher Nachbarn und Kunden in jüdischen Geschäften in Djerba, beobachteten den Zug mit beredtem Schweigen.
Für das Referendum haben mehrere Oppositionsparteien, die zu diesem Zwecke am 12. Mai einen Kongress durchführten, zum Boykott aufgerufen. Doch das wird am Resultat nichts ändern.
Aus: Neues Deutschland, 25. Mai 2002
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Re: Referendum in Tunesien
#144051
11/06/2002 15:40
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Claudia Poser-Ben Kahla
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Artikel Neunzehn Manuskript vom: 7.1.2002 • 8:20 Der tunesischen Journalistin und Verlegerin Sihem Ben Sedrine droht wegen kritischer Meinungsäußerungen ein Prozess von: Kyra Wolff Ich habe im Moment kein Telefon, kein Fax, kein Handy, und der letzte Internetanschluss, den ich hatte, ist schon wieder blockiert. Alles ist gekappt, weil die Polizei in Tunesien auch die Filialen der Telefonfirmen überwacht. Es ist, als hätte man mich ins Mittelalter zurückbefördert, ohne jegliche Kommunikationsmittel. Ich muss überall persönlich hingehen, und die Leute, die mich kontaktieren oder mir etwas mitteilen wollen, müssen mir die Nachrichten persönlich überbringen. Ich versichere Ihnen, es ist extrem unangenehm, so von der Welt abgeschnitten zu sein. Wie Sihem Ben Sedrine geht es vielen Regimekritikern in Tunesien. Neuerdings kann sie nicht einmal mehr von einer Telefonzelle aus bei Reporter ohne Grenzen oder der internationalen Föderation für Menschenrechte in Paris anrufen: Die Nummern sind von Tunesien aus blockiert. Sihem Ben Sedrine ist Journalistin und Sprecherin des verbotenen Nationalen Rates für die Freiheiten in Tunesien. Sie zählt zu den schärfsten Kritikerinnen des tunesischen Staatspräsidenten Zein El Abdine Ben Ali, der seit fünfzehn Jahren ohne demokratische Legitimation an der Macht ist und der kürzlich sogar die Verfassung ändern ließ, um ein viertes Mal Präsident werden zu können. Der tunesische Geheimdienst versucht, die oppositionelle Journalistin von der Außenwelt abzuschneiden, doch Sihem Ben Sedrine hat viele Unterstützer. Mit etwas Zeit und ein paar Tricks kommt unser Interview zustande - trotz der Polizisten in Zivil, die Sihem Ben Sedrine folgen, sobald sie ihre Wohnung im Zentrum von Tunis verlässt. Ich habe mich irgendwie daran gewöhnt, überwacht zu werden. Wir fühlen uns in Tunesien ja alle wie in einem großen Gefängnis. Aber wenn sie sich direkt vor die Tür meiner Wohnung stellen und den Leuten sagen, dass sie nicht zu mir können, wird es unangenehm. Ich habe drei Kinder. Die beiden Ältesten leben woanders, damit sie nicht unter der Situation leiden. Die Jüngste ist dreizehn Jahre alt und wohnt bei uns. Ihre Freunde können sie nicht mehr besuchen, weil dann die Familien Ärger bekommen. Die Polizei hat meine Tochter bis in die Schule verfolgt; wohl um ihren Klassenkameraden und deren Eltern zu signalisieren, dass man mit Leuten wie uns nichts zu tun haben sollte. Sihem Ben Sedrine kennt die ganze Palette der Methoden, mit denen das tunesische Regime Oppositionelle bekämpft: Durchsuchung und Schließung ihres Verlages, Drohungen gegen ihre Kinder, Diebstahl ihrer Autokennzeichen, manipulierte Pornofotos im Briefkasten. Jahrelang hatte die Journalistin Reiseverbot. Erst nach mehreren Hungerstreiks und internationalen Protesten erhielt sie ihren Reisepass. Jetzt sitzt sie wieder fest. Weil sie im tunesischen Auslandssender "Al-Mustakilla" in London Korruption und Folter in Tunesien angeprangert und sich gegen die Verlängerung der Amtszeit Ben Alis bis 2009 ausgesprochen hatte, wurde Sihem Ben Sedrine im vergangenen Juni am Flughafen in Tunis verhaftet. Einige Wochen später kam sie gegen Kaution frei und wartet nun auf ihren Prozess. Sie ist angeklagt wegen "Verleumdung zwecks Störung der öffentlichen Ordnung". Der Prozess gegen Sihem Ben Sedrine sollte im vergangenen Oktober beginnen, doch bislang gibt es noch keinen Verhandlungstermin. Wegen der aktuellen Nachrichtenlage erfuhr man in den letzten Monaten wenig über ihren Fall: Das Regime Ben Ali hat von der globalen Situation profitiert. Es herrscht eine Art Psychose nach den Attentaten des 11. September. Die arabischen Diktatoren versuchen sich jetzt als Terrorismus-Bekämpfer darzustellen. Sie glauben, freie Bahn zu haben, sie fühlen sich weniger beobachtet, und wissen, dass der Westen sich weniger für sie interessiert, weil er genug mit sich selbst zu tun hat. Sie fühlen sich frei, die Verteidiger der Menschenrechte noch etwas mehr einzuschränken. Wer Tunesien als Tourist besucht, kann sich kaum vorstellen, dass dort innenpolitisch Verhältnisse herrschen wie einst im Stasi-Staat: Es gibt kein Problem mit islamistischem Terror, der Lebensstandard der Bevölkerung ist der höchste in Afrika. Und doch wird in Tunesiens Gefängnissen gefoltert, verweigern die Machthaber der Bevölkerung elementare bürgerlichen Freiheiten, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf freie Wahlen. Tunesien ist per Assoziierungsabkommen an die Europäische Union gebunden und soll in den nächsten Jahren in die Mittelmeer-Freihandelszone eintreten. Im Rahmen des Barcelona-Prozesses sind verbindliche Menschenrechtsstandards für alle Partnerstaaten vorgeschrieben: doch die Mächtigen in der EU fordern die Einhaltung der Menschenrechte in Nordafrika nur zögerlich ein. Von Deutschland ist Sihem Ben Sedrine in dieser Hinsicht besonders enttäuscht. Deutsche Politikerinnen und Politiker ließen sich von der Propaganda des tunesischen Regimes einwickeln, so ihr Vorwurf. Tunesien genießt ein positives Image im Westen, vor allem in Deutschland. Man sagt: Tunesien ist wirtschaftlich stark, die Frauen sind frei, es gibt Autobahnen, es ist sauber, die Sonne scheint, alles ist in bester Ordnung; folglich haben die Tunesier weder das Recht auf Freiheit noch auf ihre Würde. Das finde ich sehr schlimm, vor allem wenn man bedenkt, dass die Deutschen selbst unter einer Diktatur gelebt haben, in Ostdeutschland. Die Deutschen wissen, dass Autobahnen und gute Wirtschaftsdaten allein keine Demokratie machen. http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-artikel19/71.htmlman findet so viele aktuelle Infos zur Situation in und aus Tunesien. Und ob das so richtig ist alles immer in eine andere Seite zu kopieren, weiß ich auch nicht denn wer es wirklich wissen möchte braucht nur mal im Netz zu schauen und innerhalb ein paar Minuten bekommt so viele Seiten dazu. Claudia
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Re: Referendum in Tunesien
#144052
11/06/2002 15:44
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Claudia Poser-Ben Kahla
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Schlagzeilen und Ereignisse im Jahr 2002
2002, 30. Jan. 34 wegen Terrorismus Angeklagte kommen vor Gericht.
2002, 05. Feb. Menschenrechtsgruppen protestieren gegen die brutale Verhaftung aus dem Gerichtssaal von 4 Mitgliedern der verbotenen kommunistischen Partei.
2002, 14. März Das Europäische Parlament verurteilt in einer Resolution die Einschüchterung von Menschenrechtlern und deren Familien und fordert Meinungsfreiheit.
2002, 27. März Abdelwahab Boussaa, Islamist zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt, stirbt nach einem Hungerstreik.
2002, 2. April Das tunesische Parlament billigt eine Verfassungsänderung, die dem Präsidenten eine vierte Amtsperiode ermöglicht.
2002, 11. April Eine Explosion in der Nähe einer Synagoge in Rabat tötet fünf Menschen, wahrscheinlich ein terroristischen Attentat
2002, 29. April Die Regierung entlässt den Innenminister und den Sekretär für nationale Sicherheit.
2002, 01. Mai 13 hohe Offiziere kommen bei einem Hubschrauberabsturz zu Tode.
2002, 01. Juni Nachdem er ein Referendum mit 99% gewann, setzt Präsident Zine El Abidine Ben Ali eine neue Verfassung in Kraft, die ihm eine vierte Regierungsperiode ermöglicht. Während des Referendum wurden sämtliche Kommunikationsmöglichkeiten der Menschenrechtsorganisation blockiert.
Ganz schön viele Infos nicht war?
Ja auch das gehört zum Land und man sollte auch über diese Seite Bescheid wissen.
Claudia
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Re: Referendum in Tunesien
#144064
05/11/2002 08:11
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Re: Referendum in Tunesien
#144065
16/11/2002 16:09
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Claudia Poser-Ben Kahla
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Tunesien: Die Diktatur erhält Verfassungsrang Von Werner Ruf* Zum zweiten Male hat Zine Abdine Ben Ali die Verfassung Tunesiens reformiert. Dafür wurde es allmählich Zeit, denn laut der am 25. Juli 1988 geänderten Verfassung wäre die Amtszeit des Präsidenten im Jahre 2004 zu Ende gegangen - viel zu früh für den 1936 geborenen Ben Ali, der offenbar noch von großem Tatendrang an der Spitze der Nation beseelt ist. Und wie gewohnt huldigte das verängstigte Volk dem Oberhaupt eines perfekt organisierten Polizeistaates: Die übliche Zustimmung von 99,52 % der Bürgerinnen und Bürger, die sich zu 95,59 % an der Abstimmung beteiligten, stellten in der Tat "keine Überraschung" dar, wie der Innenminister bei der offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses stolz die zuverlässige Arbeit seiner Behörde erklärte. In der Tat: Auch die bisherigen Ergebnisse der Präsidentenwahlen pendelten stets um die 99,5 %. Durch die neue Verfassung hat Ben Ali eine wesentliche Bestimmung der von ihm selbst "reformierten" Verfassung aus dem Jahre 1988 beseitigt: Sein Amtsvorgänger Habib Burgiba, der "Oberste Kämpfer" hatte nämlich die 1959, also drei Jahre nach der Unabhängigkeit, in Kraft getretene Verfassung 1969 dahingehend ändern lassen, daß seine Präsidentschaft auf Lebenszeit festgeschrieben wurde. Ben Ali hatte den vergreisten Burgiba in einem "medizinischen Staatsstreich" am 7. November 1987 abgesetzt, indem er ihn auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens für regierungsunfähig erklärte. War schon die alte Verfassung extrem autoritär auf die Person des Präsidenten zugeschnitten gewesen, so hatte Ben Ali die Kompetenzen des Präsidenten noch erweitert, indem wichtige Vollmachten des Ministerpräsidenten an den Staatspräsidenten übertragen wurden. Nun mußte nur noch jener Makel beseitigt werden, der nach dem Putsch Ben Alis die Abschaffung der Präsidentschaft auf Lebenszeit notwendig gemacht hatte. Doch wäre es nicht im Sinne Ben Alis gewesen, den seine Untertanen verächtlich "Präsident Abitur minus drei" nennen, wenn er die Verfassungsänderung nicht gleich noch zur konstitutionellen Erweiterung seiner ohnehin schier totalitären Kompetenzen genutzt hätte. Die entscheidenden Innovationen sind: Die bisherige Bestimmung, wonach der amtierende Präsident zweimal für weitere Amtsperioden von fünf Jahren wiedergewählt werden kann, wird ersetzt durch die Bestimmung, daß das Höchstalter für die Kandidatur 75 Jahre beträgt. Auf diese Weise kann Ben Ali noch zweimal kandidieren und bis zum Jahr 2014 im Amt bleiben. Der Artikel 41 der Verfassung wird dahingehen geändert, daß der Präsident strafrechtliche Immunität während seiner Amtszeit erhält. Diese gilt auch "nach Ende seiner Funktionen für Taten, die er während der Ausübung seiner Funktionen begangen hat." Den kleptokratischen Zügen des Regimes und der Habgier seiner Ehefrau werden hiermit der konstitutionelle Persilschein ausgestellt. Zur bisher alleinigen Kammer des Parlaments (Abgeordnetenkammer) wird eine zweite (Kammer der Räte) kommen. Ihre Mitglieder setzen sich folgendermaßen zusammen: Je nach Bevölkerungszahl wählen die Regierungsbezirke (gouvernorats) je einen oder zwei Abgeordnete. Ein weiteres Drittel der Abgeordneten wird paritätisch von den Arbeitgeber-, den Landwirtschafts- und den Arbeitnehmerorganisationen gewählt. Diese sind, wie auch die Gemeinden und Regierungsbezirke, fest in den Händen der Quasi-Einheitspartei RCD (Rassemblement Constitutionnel Démocratique). Den Rest der Mitglieder der Kammer, die zwei Drittel der Abgeordnetenkammer nicht übersteigen darf, ernennt der Präsident, indem er sie "unter den nationalen Persönlichkeiten und Kompetenzen" auswählt. (Art. 19). Während der Parlamentsferien kann der Präsident in eigener Vollmacht Gesetze erlassen, die später den beiden Kammern zur Billigung vorgelegt werden (Art. 31). Geändert wird schließlich der Artikel 15, der bisher "die Verteidigung des Vaterlandes und der Integrität des Territoriums" als eine "heilige Pflicht für jeden Bürger" betrachtete; nunmehr wird er folgendermaßen lauten: "Jeder Bürger hat die Pflicht, das Land zu beschützen und seine Unabhängigkeit, seine Souveränität und die Integrität des nationalen Territoriums zu erhalten. Die Verteidigung des Vaterlands ist eine heilige Pflicht für jeden Bürger." Auf den ersten Blick wird hier nicht ganz deutlich, worin der Unterschied gegenüber der alten Verfassungsbestimmung bestehen soll. Hierauf wird unten zurückzukommen sein. Reform oder konstitutioneller Staatsstreich Selbst bei ungenauem Hinsehen handelt es sich weniger um eine "Reform" als um einen konstitutionellen Staatsstreich: In der Tradition bürgerlich-demokratischen Staatsverständnisses sind Verfassungen Instrumentarien zur Sicherung der Demokratie, der Legitimität der Regierung und der Herrschaft des Rechts. Im vorliegenden Falle jedoch wird die Verfassung zu einem Werkzeug präsidialer Willkür, zum Instrument der Diktatur. Diese konstitutionell abgesicherte Diktatur, die die Staatsspitze und deren korrupte Praktiken jeder Kontrolle und Kritik entzieht, läuft geradezu auf die Aneignung des Staates hinaus. In Abwandlung des geflügelten Wortes von Ludwig XIV. "Ich bin der Staat" heißt die tunesische Variante "Der Staat gehört mir." Doch übersteigt die Verfassungswirklichkeit noch bei weitem die geradezu totalitär anmutenden Bestimmungen dieser (neuen) Verfassung: Tatsächlich regiert in Tunesien die (Quasi-)Einheitspartei RCD. Quasi-Einheitspartei, weil es in Tunesien ja eine - legale - Opposition gibt: Bereits bei den Parlamentswahlen von 1994 wurde die Opposition gewissermaßen institutionalisiert: Da in schöner Regelmäßigkeit die RCD bei den Wahlen sämtliche Sitze gewinnt, wurden vor der Wahl 19 Sitze für die "Opposition" , repräsentiert durch zwei hierfür geschaffene Parteien, reserviert. Mittlerweile verfügt diese "Opposition" sogar über 20 % der Sitze in der Abgeordnetenkammer, von denen sie keinen in Wahlen gewonnen hat. Unter diesen Umständen wird verständlich, weshalb die "Opposition" kräftig für das Verfassungsreferendum warb. So wie einerseits autokratisch Pluralismus hergestellt wird, so hält Ben Ali "sein" Land in eisernem polizeistaatlichen Griff. Und so wie er die voll in der Hand seiner RCD befindliche Abgeordnetenkammer durch eine zweite weitgehend selbst ernannte Kammer doppelt, so werden die omnipräsente Polizei und die Gendarmerie noch durch einen dritten Apparat - die fest in Händen der RCD befindlichen Milizen ergänzt -, die in Form eines Blockwartsystems die totale Überwachung der Bürgerinnen und Bürger garantieren. Vor diesem Hintergrund der sekuritären Besessenheit des Regimes, seines festen Willens zur totalen Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger erscheint der oben aufgeführte fünfte Punkt der Verfassungsänderung wohl in seinem wahren Licht, hatte doch Präsident Ben Ali im Juli vergangenen Jahres erklärt, daß die Regierung zwar die Pflicht habe, das Recht der Bürger auf abweichende Meinung zu schützen, daß aber diejenigen Bürger, die das Land in internationalen Medien kritisierten, "Verräter" seien. Die Sprecherin der tunesischen Menschenrechtsorganisation Conseil National pour les Libertés en Tunisie (CNLT) Sihem Bensedrin und ihr Ehemann Omar Mestiri hatten in Genf an einem Treffen von Menschenrechtsorganisationen teilgenommen, bei dem auch Israelis vertreten waren. Teile der voll unter Kontrolle des Regimes stehenden tunesischen Presse bezichtigten sie darauf, "sich mit dem zionistischen Teufel verbündet" zu haben. Zurecht dürfte in den Kreisen der kleinen Gruppe der tunesischen Menschrechtler die Befürchtung bestehen, daß die Änderung des Art. 15 dazu dienen könnte, nun Kritik am Regime noch stärker zu kriminalisieren als bisher, indem solche Kritik gleichgesetzt wird mit Verletzung der Souveränität von Ben Alis Staat. So scheint die Annahme der Verfassung eine neue Welle der Willkür und des Terrors von oben zur Folge zu haben, der sich im Augenblick auf die Person von Mokhtar Yahyaoui zu konzentrieren scheint: Dieser war einer der ranghöchsten Richter des Landes, unterstand sich allerdings, am 6. Juli 2001 einen offenen Brief an den Präsidenten zu schreiben, in dem er die Zustände der tunesischen Justiz beklagte und die Unabhängigkeit der dritten Gewalt einforderte. Unter fadenscheinigen Verweisen auf eine wahrscheinlich manipulierte Immobilienaffäre wurde Yahyaoui sechs Tage später vom Dienst suspendiert. Doch statt aufzugeben, schloß er sich dem CNLT an und gründete seinerseits eine Menschenrechtsorganisation, das Centre Tunisien pour l'Indépendance de la Justice (CIJ), dessen Arbeit zunehmend internationale Beachtung findet. Ganz in der Tradition der Sippenhaft, die in Tunesien vor allem zur Zeit der Verfolgung von Islamisten praktiziert wurde, geht das Regime jetzt gegen die Familie des Richters vor: Anfang Juni wurde sein Neffe, Zouheir Yahyaoui, der eine kritisch-satirische Internetseite betreibt, verhaftet und in einem von Lächerlichkeiten und Verfahrensfehlern strotzenden Prozeß, bei dem der Angeklagte selbst nicht einmal anwesend war, am 20. Juni zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis verurteilt wegen "Verbreitung falscher Nachrichten". Die siebzehnjährige Tochter des Richters, Amira Yahyaoui wurde am 14. Juni beim Verlassen ihres Gymnasiums von einem Mann angefallen, der mit einem Holzprügel auf sie einschlug, so daß sie einen Schienbeinbruch erlitt. Der Mann flüchtete anschließend in ein Parteibüro der RCD. Zu welcher Parodie die tunesische Justiz inzwischen verkommen ist, illustrierte der "Prozeß" gegen Hamma Hamami und die Führung der illegalen Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT) am 2. Februar 2002, in dessen Folge die Mitglieder der tunesischen Anwaltskammer in einen Streik traten. Und das Regime kann es sich auch leisten, internationalen Prozeßbeobachtern einfach die Einreise zu verweigern oder aber diese festzusetzen und zu mißhandeln und ihre Aufzeichnungen zu beschlagnahmen. Ist die tunesische Justiz, bei aller Tragik, von geradezu grotesken Zügen gekennzeichnet, so sind die Zustände in tunesischen Gefängnissen geradezu grauenhaft: Folter ist an der Tagesordnung, medizinische Versorgung nahezu inexistent und die Todesrate extrem hoch. Und all dies geschieht in einem Lande, das wie kein anderes in der ganzen Region aufgrund seines Entwicklungsstandes und seiner Sozialstruktur, seines Bildungsstandes und seiner politischen Kultur alle Voraussetzungen für den Übergang zu demokratischen Verhältnissen besitzt. Dieser wäre um so notwendiger, als Tunesien als erstes der sogenannten Mittelmeer-Drittländer (MDL) einen Assoziierungsvertrag mit der EU unterzeichnet und ratifiziert hat, in dessen Folge mit erheblichen sozialen Problemen zu rechnen sein wird: Das untere Drittel der tunesischen Betriebe dürfte der Konkurrenz industriell gefertigter Massengüter aus dem Norden nicht standhalten, Betriebsschließungen und Massenentlassungen werden unvermeidbar sein. Die Verschärfung des Autoritarismus macht auch die leiseste Form jeden Protests unmöglich. Dagegen ist Demokratie ja gerade die Anerkennung legitimen Protests, der Pluralität von Meinungen, des öffentlichen Streits um politische, soziale und wirtschaftliche Ordnungsmodelle. Demokratie bindet divergierende Meinungen und Strömungen ein in den legalem Rahmen des Kampfes um legitime Herrschaft. Die nunmehr konstitutionalisierte Repression und Plünderung des öffentlichen Reichtums läßt für einen Systemwandel nur die Alternative der gewalttätigen Eruption. Und diese muß um so gefährlicher erscheinen, als die staatliche Repression schon bisher auch die geringsten Ansätze oppositioneller Strukturen kriminalisiert, zerschlagen und vernichtet hat. Dennoch garantiert der totale Polizeistaat keine absolute Sicherheit, wie der Anschlag auf die Synagoge La Ghriba Anfang April und die jüngsten Bombendrohungen gegen den Hotelkomplex Port El Kantawi bei Sousse zeigen. Noch scheint die Situation "stabil". Doch um welche Art von Stabilität handelt es sich? Zeigen nicht Djerba und jene Bombendrohungen, daß der immer größer werdende Druck von oben immer stärkeren Gegendruck von unten zu bewirken scheint, ein Druck, der durch die sozialen Folgen des Assoziierungsvertrages erheblich verstärkt werden dürfte? Ökonomische Liberalisierung, die nicht von politischer Öffnung begleitet wird, produziert Spannungen und Widersprüche, die auch die möglichen positiven Seiten der Liberalisierung zu vernichten drohen, denn: Wer wird in einem Lande investieren, in dem nicht nur keine Rechtsstaatlichkeit herrscht, sondern in dem der politische Zündstoff sich in einer Weise anhäuft, daß mittel- bis langfristige Investitionen äußerst riskant erscheinen müssen? Und: Welche Glaubwürdigkeit besitzt der Westen, vor allem Europa, wenn es immer wieder auf die Einhaltung der Menschenrechte pocht, aber um solcher Pseudo-Stabilität willen Wahl- und Abstimmungsergebnisse à la Ben Ali, die unter tunesischen Verhältnissen wahrhaftig "keine Überraschung" sein können, eilfertig als Legitimation einer Tyrannenherrschaft akzeptiert, die das genaue Gegenteil dessen ist, was die Wahlergebnisse zu suggerieren versuchen. Wie lange wird es noch dauern, bis europäische Politik und Medien feststellen müssen, an welchem Selbstbetrug sie sich festhalten bzw. festgehalten haben. François Burgat hat dies schon 1996 treffend auf den Punkt gebracht: "... Hören wir auf, die Stimmzettel, die durch die Trichter der psychologischen und ökonomischen Kriegsführung geschoben werden ... mit denen der Volksabstimmung zu verwechseln. Der Abstand, den wir entstehen lassen zwischen dem 'Legal-Institutionellen' und dem politisch 'Realen' in der Welt unserer arabischen Nachbarn trägt in sich gefährliche politische Schizophrenien, nicht aber Frieden und Stabilität. ... wir bedecken unsere eigenen Augen mit einem Schleier, der viel gefährlicher ist als alle Tschadors: mit dem der Desinformation." * Werner Ruf, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Kassel und ist Mitglied der AG Friedesnforschung an der Uni Kassel Der Beitrag erschien in Heft 31 (2002) der Zeitschrift "Inamo". Bestelladresse: INAMO REDAKTION, Dahlmannstr. 31, 10629 Berlin; oder E-MAil: redaktion@inamo.de oder Tel. 030/86421845 http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Tunesien/ruf.html
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